Das Paradies am Fluss
ihnen her und wedelte vor lauter Freude über alles mit dem Schwanz. In dieser ganzen Weite und Stille lag ein Gefühl von Frieden und Heilung, und als Jess jetzt auf der Bettkante sitzt, erinnert sie sich daran, wie tief sie geatmet und die saubere Luft über dem Moor mit gierigen Zügen eingesogen hat. Die tiefen Atemzüge linderten die Einsamkeit, die ihr Herz schon so lange in ihrem kalten Griff hält – und dann wies Kate auf ein glitzerndes Wasserband, das sich weit im Westen dahinschlängelte.
»Sehen Sie«, sagte sie. »Das ist der Tamar.« Und mit einem Mal ließ ein seltsames Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, Jess’ Herz heftig pochen. Plötzlich wich der gewohnte kalte Druck von ihm. Hier liegen ihre Wurzeln. Hier, in diesem Teil des West Country, hat einst die Familie ihres Vaters gelebt. Einen kurzen Moment lang fühlte sie sich ihm nahe, als stünde er neben ihr, als ermunterte er sie und bestärkte sie darin, diese Reise unternommen zu haben.
Jess legt ihr Handy auf die kleine Kommode neben ihrem Bett. Es passiert einfach zu viel, um es in SMS-Sprache zu quetschen. Wieder sieht sie das kleine Gemälde an, und dann knipst sie, von einer verwirrenden Mischung aus Aufregung, Glück und Entsetzen erfüllt, das Licht aus, schlüpft rasch unter das Oberbett, rollt sich zusammen und wartet auf den Schlaf.
»Ich kann es gar nicht fassen«, erklärt Tom zum dritten oder vierten Mal. »Sie ist Juliets Ebenbild. Ein Prachtmädchen.«
Kate war mit Jess zum Mittagessen da, und er ist vollkommen hingerissen von der jungen Frau. Jetzt, nach dem Abendessen, sitzt er mit Cass im Fernsehzimmer und denkt an die Partys unten am Tamar und die liebreizende Juliet zurück.
»Dir steht ja der Seiber vor dem Mund, Liebling«, sagt Cass und beugt sich vor, um umzuschalten. »Das ist nicht sehr attraktiv.«
Hinter ihrem Rücken zieht Tom eine kleine Grimasse. Durch die Begegnung mit Jess fühlt er sich wieder jung, stark und männlich. »Du musst zugeben, dass es stimmt«, gibt er zurück. »Die Ähnlichkeit ist außerordentlich. Warte, bis Johnnie und der gute alte Fred sie sehen! Wir müssen das wirklich mit einem Fest begehen. Wen kennen wir denn noch, der sich an Mike und Juliet erinnern müsste? Wie wäre es mit den Mortlakes? Stephen war immer hinter Juliet her. Es war ihm sogar ziemlich ernst. Das war natürlich lange, bevor er geheiratet hat.«
Ein merkwürdiges kurzes Schweigen tritt ein. Cass scheint sich vollkommen auf River Cottage zu konzentrieren und hat den Kopf leicht von ihm ab- und dem Fernseher zugewandt. Tom erinnert sich daran, dass Stephen sich auch sehr für Cass interessiert hat, aber viel später, nachdem sie alle geheiratet und Kinder bekommen hatten und ruhiger geworden waren. Er war ziemlich lästig gewesen – aber andererseits war Stephen auch immer ein Mensch gewesen, der gern etwas riskierte.
Egal, das ist lange her, und seitdem ist viel Wasser unter der Brücke hindurchgeflossen. Tom verzieht noch einmal leicht das Gesicht und trinkt seinen Wein aus. Komisch, wie Jess ihn aufgemuntert hat! Oh, er war sich während des Essens schon bewusst, dass Olivers sardonischer Blick auf ihm ruhte – doch das hat ihn nicht abgehalten. Er ist in Form gewesen und hat den Teufelskerl gegeben. Jess mag ihn, das hat er gleich gemerkt. Er lehnt sich zurück, um Hugh Whittingstall anzuschauen, den Fernsehkoch mit dem berühmten Satz »Verdammt, wo ist der Korkenzieher?« –, und Cass wirft ihm einen Seitenblick zu und sieht, dass er jetzt vollkommen in die Sendung vertieft ist.
Doch Cass irrt sich. Tom starrt den Bildschirm an, aber die Bilder, die er sieht, haben nicht das Geringste mit Hugh zu tun, der in seiner Küche raffinierte Dinge mit Enten anstellt. Er ist um vierzig Jahre in die Zeit zurückgereist und sieht den Ballsaal auf der HMS Drake vor sich: Juliet, die sich in Mikes Armen dreht und über seine Schulter hinweg lacht. Ihre langen Röcke fliegen und heften sich an seine schicke Uniform.
Tom stand am Rand der Tanzfläche, wartete darauf, dass Cass von der Toilette zurückkam, und beobachtete Juliet und Mike. Juliet war anmutig und schlank, aber keine ätherische Schönheit; ihr Haar und ihre Augen wiesen eine seltsame Mischung von Rot und Braun auf, die Farbe von Fuchsfell. Sie war eher der erdverbundene Typ. Heute Abend trug sie das lange, dichte Haar hochgesteckt, doch schimmernde Strähnen ringelten sich um ihren Hals, und Tom stellte sich vor, wie er ihre Haarnadeln eine
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