Das Paradies auf Erden
Sorgen machen müssen. Sie wurde mit großer Herzlichkeit im Familienkreis aufgenommen, umarmt und geküsst und dann von Ann und Amy, Thomas’ Schwestern, ins Wohnzimmer geführt, wo ein Holzfeuer im Kamin prasselte und heißer Kaffee bereitstand.
“Nur zum Aufwärmen”, meinte Ann. „In einer halben Stunde gibt es Essen.
Zieh dich ja nicht um.” Sie zögerte. “Oder besser doch. Hattet ihr beide eine angenehme Fahrt? Aber warum frage ich … Thomas ist so ein guter Fahrer.
Schade, dass es schon dunkel war, aber ihr konntet wohl nicht früher kommen?”
Nachdem Claudia den Kaffee getrunken hatte, wurde sie über eine breite Treppe nach oben und dann einen Korridor entlanggeführt. “Hier schläfst du”, sagte Ann und öffnete eine Tür. “Thomas’ Zimmer ist nebenan, dazwischen liegt das Badezimmer. Bleib nicht zu lange oben. Wir müssen noch die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen.”
Claudia blieb allein zurück und sah sich in dem großen, überraschend hohen Raum um. Auch die Möbel waren groß - das Messingbett, die Kommode, der Kleiderschrank und der Frisiertisch mit vielen kleinen Schubladen und einem dreiteiligen Klappspiegel. Trotz der wuchtigen Möbel, die meist aus Mahagoniholz gearbeitet waren, besaß das Zimmer Charme, was vor allem dem hellen Teppich, den Chintzgardinen und den rosafarbenen Lampenschirmen zu verdanken war. Die Tür an der rechten Wand führte ins Bad, hinter dem Thomas’ Zimmer lag.
Claudia packte ihren Koffer aus, der auf geheimnisvolle Weise heraufgebracht worden war, zog das grün karierte Seidenkleid an und machte sich sorgfältig vor dem Spiegel zurecht. Dann setzte sie sich auf das Bett, um sich zu sammeln. Sie war plötzlich nervös und fürchtete sich vor dem Hinuntergehen. Wie konnte Thomas sie in dieser Situation allein lassen?
Während sie noch darüber nachdachte, klopfte es leise an der Tür, und Thomas kam herein. Ein Blick genügte ihm, um zu erkennen, wie es um Claudia stand.
Er setzte sich neben sie, legte ihr einen Arm um die Schultern und fragte:
“Nervös? Das ist nicht nötig. Alle freuen sich darauf, dich kennen zu lernen.
Komm mit hinunter. Dad wartet mit dem Champagner, und James möchte dich unter dem Mistelzweig küssen.”
Ein Kuss von Thomas wäre mir lieber, dachte Claudia, während sie die Treppe hinuntergingen, aber das war natürlich ein dummer und überflüssiger Wunsch.
Thomas scheute sich davor, Gefühle zu zeigen. Er glaubte nicht mehr an die Liebe, das hatte sie vor ihrer Hochzeit gewusst. Worüber beklagte sie sich also?
Die ganze Familie hatte sich im Wohnzimmer versammelt einem fast quadratischen Raum mit Blick zum Garten. Die Wände waren dunkel getäfelt.
Der tiefrote Samtbezug der Polstermöbel wirkte leicht verschlissen, trug dadurch aber zu der gemütlichen Atmosphäre bei. Überhaupt herrschte eine so fröhliche, von echter Zuneigung geprägte Stimmung, dass Claudia ihre Befangenheit schnell verlor. Sie wurde noch einmal herzlich willkommen geheißen, empfing den angekündigten Kuss von Thomas’ Bruder James und trank den Champagner, der in kostbaren Kristallkelchen serviert wurde.
Anschließend gingen sie ins Esszimmer hinüber, dessen Wände ebenfalls getäfelt waren. In der Mitte stand ein ungewöhnlich großer Mahagonitisch mit viktorianischen Stühlen, sonst fielen vor allem eine Anrichte aus der Zeit Williams IV. und ein prächtiger vergoldeter Serviertisch auf. Mehrere Ölbilder, vermutlich Familienporträts, schmückten die Wände, dazwischen hingen ein-und zweiarmige Bronzeleuchter und verströmten gedämpftes Licht.
Der Tisch war weihnachtlich gedeckt worden. In der Mitte prangte ein Gesteck aus Stechpalmen und Rosen. Tischtuch und Servietten waren aus schwerem weißem Damast, Silber und Kristall funkelten im Schein der Kerzen, und man aß von kostbarem alten Coalportporzellan.
Claudia war hungrig, und das Essen schmeckte köstlich. Es gab Wildsuppe, gebratenen Fasan mit Prinzesskartoffeln und verschiedene Gemüse und als Nachtisch Mandelcreme in Biskuitteig. Dazu wurden verschiedene Weine getrunken, die Claudia nicht kannte, aber sie trugen zu ihrer gehobenen Stimmung bei. Ein-oder zweimal legte Thomas, der neben ihr, saß, seine Hand auf ihre und machte ihr Glück damit fast vollkommen.
Nach dem Essen wurden die Geschenke unter den Weihnachtsbaum gelegt.
“Morgen früh gehen wir alle in die Kirche”, sagte Amy zu Claudia. “Vielleicht möchte Thomas auch den Mitternachtsgottesdienst
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