Das Paradies ist anderswo
dieses Gefühl zurück, das dich betäubte, verwirrte, sprachlos machte vor diesem jugendlichen Gesicht mit seiner hellen, glatten Haut, vor diesem wasserblauen Blick, diesem harmonischen, zerbrechlichen kleinen Körper, der Unschuld und Heiligkeit ausstrahlte, wenn sie das Speisezimmer betrat, auf die Terrasse hinausging oder am Ufer des Aven zerstreut die Abendkühle genoß und zuschaute, wie die Fischerboote ausfuhren, während du sie beobachtetest, verborgen zwischen den Bäumen.
Nie hattest du ihr ein zärtliches Wort gesagt noch ihr gegenüber die geringste Andeutung gemacht. Weil sie zu jung war, weil du doppelt so alt warst wie sie? Eher aus einer seltsamen moralischen Selbstzensur heraus. Es war die Ahnung, daß du ihre Integrität, ihre vergeistigte Schönheit durch dein Werben beschmutzen würdest. Deshalb verstelltest du dich, spieltest den großen Bruder, der dem kleinen Mädchen, das seine ersten Schritte in der Welt der Erwachsenen tut, mit seiner Erfahrung zur Seite steht. Andere hatten es nicht vermocht, die Gefühle zu unterdrücken, die Madeleines meerblaue Schönheit weckte. Charles Laval zum Beispiel. Hatte er ihr bereits in jenem lauen Sommer 1888 mit Liebesgedichten den Kopf verdreht,während du in deinem kleinen Zimmer der Vision nach der Predigt Form und Farbe gabst? Hatten Charles und Madeleine eine schöne Leidenschaft erlebt? Hoffentlich. Traurig, daß sie so jung sterben mußten, im Abstand von einem Jahr, sie im exotischen Ägypten, so weit entfernt von ihrer Heimat. So, wie auch du sterben wirst, Paul.
All diese Erfahrungen, Die Elenden , die lautere Liebe zu Madeleine, die Gespräche mit seinen Malerfreunden, bei denen das Thema der Religion häufig auftauchte – wie Emile Bernard war auch der Holländer Jacob Meyer de Haan, ein zum Katholizismus konvertierter Jude, von der Mystik besessen –, waren entscheidend für das Zustandekommen der Vision nach der Predigt . Als das Bild fertig war, verbrachtest du mehrere schlaflose Nächte, in denen du im Licht der winzigen Petroleumlampe des Schlafzimmers Briefe an die Freunde schriebst. Du sagtest ihnen, du habest endlich die ländliche, abergläubische Schlichtheit der gewöhnlichen Leute erlangt, die in ihrem einfachen Leben und ihren alten Glaubensvorstellungen nicht deutlich zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Wahrheit und Phantasie, zwischen Beobachtung und Vision unterschieden. Schuff und dem verrückten Holländer erklärtest du, Die Vision nach der Predigt habe den Rahmen des Realismus gesprengt und eine Epoche eingeleitet, in der die Kunst nicht mehr die natürliche Welt imitieren, sondern mit Hilfe des Traums vom unmittelbar gegebenen Leben abstrahieren und nach dem Vorbild des Göttlichen Meisters das tun würde, was dieser getan hatte: schöpferisch sein. Es war die Pflicht des Künstlers, etwas Neues zu schaffen, nicht, zu imitieren. Fortan könnten die Künstler, von sklavischen Zwängen befreit, alles wagen in ihrem Bestreben, Welten zu schaffen, die sich von der wirklichen unterschieden.
In wessen Händen mochte Die Vision nach der Predigt gelandet sein? Bei der Versteigerung im Hôtel Drouot am Sonntag, dem 22. Februar 1891, die dir das Geld für deine erste Reise nach Tahiti verschaffen sollte, war Die Visionnach der Predigt das Bild, für das am meisten bezahlt wurde, fast neunhundert Francs. In welchem bürgerlichen Eßzimmer mochte es jetzt sein Leben fristen? Du hattest für Die Vision nach der Predigt ein religiöses Umfeld gewollt und angeboten, es der Kirche in Pont-Aven zu schenken. Der Pfarrer lehnte es ab, mit der Begründung, daß seine Farben – wo in der Bretagne gab es blutrote Erde? – den Respekt vermissen ließen, der den geweihten Stätten gebührte. Und noch entrüsteter wies es der Pfarrer von Nizon zurück, der erklärte, ein derartiges Bild würde Unglauben und Empörung bei den Gemeindemitgliedern auslösen.
Wie sehr hatten sich die Dinge in diesen zwölf Jahren für dich verändert, Paul, seitdem du dem guten Schuff geschrieben hattest: »Nun, da die Probleme des Koitus und der Hygiene gelöst sind und ich mich mit völliger Unabhängigkeit auf die Arbeit konzentrieren kann, hat mein Leben seine Lösung gefunden.« Es hat sie nie gefunden, Paul. Auch jetzt nicht, obwohl du dank deiner Artikel, Zeichnungen und Karikaturen in Les Guêpes nicht mehr in der ständigen Angst leben mußtest, nicht zu wissen, ob du am nächsten Tag zu essen haben würdest. Jetzt konntest du dank François
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