Das Paradies ist anderswo
Cardella und seiner Kumpane von der Katholischen Partei mit einer Regelmäßigkeit essen und trinken, die du in all deinen Jahren auf Tahiti nicht gekannt hattest. Oft lud der mächtige Cardella dich in sein imposantes, zweistöckiges Anwesen in der Rue Bréa ein, ein Haus mit kunstvoll geschnitzten Geländern um die Terrassen inmitten eines weitläufigen, von einem Holzzaun geschützten Gartens, oder zu den politischen Plauderrunden in seiner Apotheke in der Rue de Rivoli. Warst du zufrieden? Nein. Du warst bitter und voll Überdruß. Warum hattest du seit mehr als einem Jahr nicht einmal ein einfaches Aquarell gemalt oder einen winzigen tupapau geschnitzt? Was für einen Sinn hatte es, weiter zu malen? Du wußtest jetzt, daß alle Werke, die es wert waren, zu dauern, deiner Vergangenheit angehörten. Zum Pinsel greifen, umZeugnisse deines Verfalls und Ruins zu produzieren? Verdammtnochmal, nein.
Es war besser, alles, was an Schöpferkraft und Kampfgeist in dir übrigblieb, auf Les Guêpes zu verwenden und die aus Paris gesandten Beamten, die Protestanten und die Chinesen zu attackieren, die dem Korsen und seinen Freunden so heftige Kopfschmerzen bereiteten. Hattest du zuweilen Gewissensbisse, weil du jetzt als Söldner im Dienst von Leuten standest, die dich früher verachtet hatten und in deinen Augen verachtenswert gewesen waren? Nein. Du hattest vor vielen Jahren beschlossen, daß man, wenn man Künstler sein wollte, jede Art bürgerlicher Vorurteile ablegen mußte, und Gewissensbisse gehörten zu diesem Ballast. Bereute es der Tiger, wenn er seine Zähne in den Damhirsch schlug, um sich zu ernähren? Hatte die Kobra Skrupel, wenn sie einen Vogel hypnotisierte und lebendig hinunterschlang? Nicht einmal als du in einer der ersten Nummern von Les Guêpes , im April oder Mai 1899, mit Pauken und Trompeten das irrwitzige Gerücht in die Welt setztest – du hattest es von Pierre Loti und seinem Roman Le mariage de Loti übernommen, der den verrückten Holländer so begeistert hatte –, daß die Chinesen die Lepra nach Tahiti eingeschleppt hatten, erfaßte dich die geringste Reue über die Verbreitung dieser Verleumdung.
»Eine gute Hure leistet gute Arbeit, mein lieber Pierre«, lallte er, zu kraftlos, um aufzustehen. »Ich bin eine gute Hure, wage nur, das zu leugnen.«
Ihm antwortete ein tiefer Schnarcher von Pierre Levergos. Die Wolken hatten abermals den Mond bedeckt, und sie beide umgab eine Dunkelheit, die nur ab und zu durch die blinkenden Leuchtkäfer aufgehellt wurde.
Die Großmutter Flora hätte nicht gebilligt, was du tatest, Paul. Natürlich nicht. Dieser verrückte Blaustrumpf wäre auf seiten der Gerechtigkeit gewesen und nicht auf seiten von François Cardella, dem größten Rumproduzenten Polynesiens. Was war Gerechtigkeit auf dieser Scheißinsel,die immer weniger der Welt der alten Maori glich und immer mehr dem verrotteten Frankreich? Die Großmutter Flora hätte versucht, das herauszufinden, indem sie ihre Nase in dieses Gewirr aus Zwisten, Intrigen, schmutzigen, altruistisch daherkommenden Interessen gesteckt hätte, um ein fulminantes Urteil zu fällen. Deshalb warst du mit nur einundvierzig Jahren gestorben, Großmutter! Er dagegen, der auf die Gerechtigkeit schiß, hatte schon dreiundfünfzig Jahre gelebt, zwölf mehr als die Großmutter Flora. Viel länger würdest du nicht leben, Paul. Bah, was das eigentlich Wichtige betraf, die Schönheit und die Kunst, war deine Biographie ohnehin abgeschlossen.
Als ihn im Morgengrauen des nächsten Tages ein Regenguß weckte, der ihn bis auf die Knochen durchnäßte, saß er noch immer auf demselben Stuhl, unter freiem Himmel, mit steifem Hals. Pierre Levergos war irgendwann in der Nacht gegangen. Er wartete, bis der Regen ihn ganz geweckt hatte, und schleppte sich dann in die Hütte, wo er sich auf sein Bett fallen ließ, um bis zum Mittag zu schlafen. Pau’ura und das Kind waren nicht da.
Seitdem er aufgehört hatte zu malen, stand er nicht mehr so früh auf wie früher. Er aalte sich bis zum späten Vormittag im Bett und ging dann fort, um den öffentlichen Wagen nach Papeete zu nehmen, wo er bis zum Abend blieb und die nächste Nummer von Les Guêpe s vorbereitete. Die Zeitschrift erschien monatlich und bestand aus vier Seiten, doch da alles in ihr von ihm stammte – Artikel, Karikaturen, Zeichnungen, heitere Verse, Witze, Klatsch und Anekdoten –, bedeutete jede Nummer viel Arbeit für ihn. Außerdem brachte er das Material in die
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