Das Paradies ist anderswo
zu kommen. Der Sommer, in dem du durch die Schuld Panamas – der bittere Tropfen – aus dem Scheißen nicht mehr herauskamst und dir Tausende von geräuschvollen Furzen entfuhren.
Was war das Wichtigste von allem gewesen? Die Elenden , Koke. Den Roman Victor Hugos hatten alle Maler gelesen, die mit dir in der Pension der Witwe Marie-Jeanne Gloanec wohnten (selbst sie hatte ihn gelesen), Charles Laval, Meyer de Haan, Emile Bernard, Ernest de Chamaillard. Alle lobten ihn. Du sträubtest dich, in diese umfangreiche Geschichte einzutauchen, die noch immer ganz Frankreich bewegte, von den Portiersfrauen bis zu den Herzögen, von den Modistinnen bis zu den Intellektuellen, von den Künstlern bis zu den Bankiers. Aber du fügtest dich den Bitten Madeleines, als sie dir gestand, dieses Buch habe »ihre Seele erschüttert« und sie habe »während der gesamten Lektüre feuchte Augen« gehabt. Dich brachte das Abenteuer Jean Valjeans nicht zum Weinen, aber es bewegte dich mehr als sämtliche Bücher, die du bislang gelesen hattest. So sehr, daß du, als der verrückte Holländer dir vorschlug, ihr solltet als Auftakt für euer bevorstehendes Zusammenleben in Arles eure Selbstbildnisse austauschen, dich als den Helden des Romans, Jean Valjean, maltest, als ehemaligen Sträfling, der zum Heiligen wird durch die grenzenlose Frömmigkeit des Bischofs, Monseigneur Bienvenu, der ihn an dem Tag, an dem er ihm die Kandelaber übergibt, die dieser ihm hatte stehlen wollen, für das Gute gewinnt. Der Roman faszinierte, beunruhigte, verstörte, verwirrte dich. Gab es eine solche sittliche Reinheit,eine Reinheit, die imstande war, sich über den menschlichen Schmutz zu erheben, gab es eine solche Großzügigkeit und Selbstlosigkeit in dieser niederträchtigen Welt? Die sanfte Madeleine hatte einen Namen dafür, wenn sie sich an regenlosen Tagen abends auf die Terrasse der Pension Gloanec setzen konnten, um auf den Einbruch der Dunkelheit zu warten: Gnade. Doch wenn es die belebende Hand Gottes war, die durch Bischof Bienvenu und später durch Jean Valjean dem Guten zum Sieg über das Böse verhalf, das der unerbittliche Javert am Ende des Romans in seiner Seele mit auf den Grund der Seine nimmt, worin bestand dann das Verdienst des Wesens Mensch?
Auf dem Selbstbildnis als Jean Valjean, das du dem verrückten Holländer schicktest, hattest du den unverstandenen Künstler gemalt, der durch die Blindheit, den Materialismus und das Philistertum seiner Mitbürger zum gesellschaftlichen Exil verurteilt ist. Doch vielleicht hattest du auf diesem Selbstbildnis schon das zu malen begonnen, was erst Monate später, mit der Vision nach der Predigt , ganz Wirklichkeit werden sollte: den Übergang vom Historischen zum Transzendenten, vom Materiellen zum Spirituellen, vom Menschlichen zum Göttlichen. Erinnertest du dich an die Glückwünsche und Lobeshymnen deiner Freunde in Pont-Aven, als das Bild fertig war? Und an die Worte der schönen Madeleine? »Dieses Werk von Ihnen wird mich bis zum Ende meiner Tage begleiten, Monsieur Gauguin.«
Ob die spirituelle Madeleine sich wohl in Kairo, als sie ein Jahr nach dem armen Charles Laval an Tuberkulose starb, an Die Vision nach der Predigt erinnert hatte? Natürlich nicht. Bestimmt hatte sie dich, das Bild und wahrscheinlich sogar diesen Sommer 1888 in Pont-Aven völlig vergessen. Du hattest nie gedacht, daß du dich nach Mette Gad jemals wieder verlieben würdest, Paul. Freilich lebtet ihr schon damals getrennt, sie in Kopenhagen mit euren fünf Kindern, und du in Pont-Aven, und das einzige, was von der Ehe übrigblieb, war ein Stück Papier und eine sporadischeKorrespondenz. Dennoch und obwohl du ahntest, daß du mit Mette nie wieder eine Familie bilden und ein gemeinsames Heim haben würdest, hattest du dich gefühlsmäßig nie frei gefühlt. Bis jetzt, Koke. Schon 1888 warst du zu dem Schluß gekommen, daß die Liebe in ihrer westlichen Form ein Hindernis war, daß die Liebe für einen Künstler ausschließlich die körperliche, sinnliche Dimension haben durfte, die sie für die primitiven Völker besaß, daß sie nicht die Gefühle, die Seele in Mitleidenschaft ziehen durfte. Wenn du der Versuchung des Fleisches nachgabst und – vor allem mit Prostituierten – die körperliche Liebe suchtest, empfandest du dies daher als einen hygienischen Akt, ein Vergnügen ohne Zukunft. Die Ankunft Madeleines mit ihrem Bruder Emile in der Pension Gloanec in Pont-Aven in jenem Sommer vor zwölf Jahren gab dir
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