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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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du mit Bitterkeit, mit heftigen Gefühlen und erlaubtest dem Zorn, dir den Verstand zu trüben.
    Machte dich dein körperliches Leid so ungeduldig? Rührte deine Depression aus der Erschöpfung dieser Monate unsteten Lebens in bescheidenen Pensionen und Herbergen oder elenden Absteigen wie dem Hôtel du Gard? Die nächtlichen Alpträume, in denen die Geistlichen von Nîmes dich vom Pöbel lynchen ließen, zehrten an deinen Kräften. Besser Schlaflosigkeit als Alpträume. Einen guten Teil der Nächte verbrachte sie fortan damit, bei offenem Fenster Rachepläne gegen den Klerus von Nîmes zu schmieden. ›Wenn du an die Macht kommst, wirst du ein schreckliches Strafgericht halten, Florita. Du wirst sie in dieses römische Kolosseum stecken, auf das sie so stolz sind, und dort sollen dieselben Arbeiter sie zerreißen, die sie mit ihren Predigten zu grausamen Tieren gemacht haben.‹ Die Vorstellung solcher Racheakte befreite sie am Ende von ihrer schlechten Laune; sie mußte kichern wie ein kleines Mädchen, und dann kehrten ihre Gedanken gewöhnlich nach Arequipa zurück.
    Und wenn nun alle Schlachten so unsinnig waren wie die, der du in der Weißen Stadt beiwohnen durftest? Ein menschliches Chaos, das die Historiker später zur Befriedigung patriotischer Gefühle in schlüssige Äußerungen von Idealismus, Tapferkeit, Großmut, Prinzipientreue verwandelten, aus denen sie alles getilgt hatten, was darin Angst, Dummheit, Gier, Egoismus, Grausamkeit und Unwissen der großen Mehrheit war, die erbarmungslos dem Ehrgeiz, der Habgier oder dem Fanatismus einer kleinen Minderheit geopfert wurde. Diese Farce, dieses Possenspiel der Schlacht von Cangallo würde vielleicht in hundert Jahren in den Geschichtsbüchern der Peruaner stehen, als ein exemplarisches Kapitel der vaterländischen Vergangenheit,und davon berichten, wie die heroische Stadt Arequipa einst General Orbegoso, den gewählten Präsidenten, verteidigte, sich wacker gegen die rebellischen Truppen von General Gamarra schlug und nach so blutigen wie tapferen Taten von diesen niedergeworfen wurde (um ein paar Tage später wie durch Zauberkraft als Siegerin dazustehen). Ja, Florita: Die gelebte Geschichte war grausam und dumm und die geschriebene ein hurrapatriotisches Lügengespinst.
    Die gamarratreuen Truppen unter General Román brauchten so lange, um nach Arequipa zu kommen, daß das Orbegoso-Heer, das von General Nieto und dem Dekan Valdivia angeführt wurde und dessen Generalstabschef ihr Vetter Clemente Althaus war, sie fast vergessen hatte. Das ging so weit, daß General Nieto seinen Soldaten am 1. April 1834 Urlaub gab, damit sie in die Stadt gehen und sich dort betrinken konnten. Im Haus der Familie Tristán, in der Calle Santo Domingo, hörte Flora die ganze Nacht den Lärm der Gesänge, Tänze und Rufe, mit denen die Soldaten in sämtlichen Schenken der Stadt bei chicha und scharfen Speisen ihre freie Nacht feierten. Charangos und Gitarren tönten laut in allen Stadtvierteln. Am nächsten Tag erschienen in der Ferne, auf der Linie der Berge, in der reinen Luft des von den Vulkanen begrenzten Horizonts, die Soldaten General Románs. Vor der Sonne durch einen roten Schirm geschützt und ausgerüstet mit einem Fernrohr, sah Flora sie auftauchen und gleich einem langsam vorrückenden Ameisenheer näher kommen. Währenddessen waren ihr Onkel Don Pío, ihre Kusine Carmen, ihre Tante Joaquina und die übrigen Verwandten – Tanten, Kusinen, Onkel, Vetter, Günstlinge und Ordensleute – inmitten eines großen Durcheinanders in allen Zimmern des Hauses hastig damit beschäftigt, Bündel und Pakete mit den wertvollsten Schmucksachen, Silbermünzen, Kleidungsstücken und Gegenständen zu packen, um, wie die ganze »gute« Gesellschaft Arequipas, in den Kirchen, Konventen und Klöstern Zuflucht zu suchen. Am Vormittag,als eine große Staubwolke ihr die Sicht auf die Soldaten General Románs genommen hatte, sah Flora auf einmal Clemente Althaus auftauchen, zu Pferde, schwitzend und bis an die Zähne bewaffnet. Der Oberst hatte sich für einen Augenblick aus dem Lager davongestohlen, um die Familie zu warnen:
    »Unsere sämtlichen Männer sind betrunken, sogar die Offiziere, wegen Nietos blödsinniger Idee, ihnen die Nacht freizugeben.« Er schäumte vor Zorn. »Wenn San Román jetzt angreift, sind wir verloren. Geht ins Kloster Santo Domingo, auf der Stelle.«
    Und er entfernte sich in gestrecktem Galopp, auf deutsch fluchend. Obwohl Tanten und Kusinen sie bedrängten,

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