Das Paradies ist anderswo
gefaßt hatte, versuchte sie, ihn aufzuklären, und setzte ihm auseinander, daß alle Geistlichen – ob Juden, Protestanten oder Mohammedaner, aber vor allem die Katholiken – Verbündete der Ausbeuter und Reichen seien, weil sie die leidende Menschheit mit ihren Predigten und der Verheißung des Paradieses zur Resignation verurteilten, wo doch das Wichtige nicht dieser unwahrscheinliche Himmelslohn post mortem war, sondern die freie und gerechte Gesellschaft, die hier und jetzt errichtet werden mußte. Der Bäcker-Dichter fuhr zusammen, als wäre ihm der Teufel erschienen:
»Sie sind böse, böse«, rief er aus, während er mit den Händen eine Art Exorzismus vollführte. »Und Sie wollen mich um Hilfe bitten, für ein Werk gegen meine Religion?«
Madame-la-Colère explodierte schließlich und nannte ihn einen Verräter an seinen Ursprüngen, einen Hochstapler und Feind der Arbeiterklasse, einen Blender, dem die Zeit die Maske vom Gesicht reißen würde.
Der Besuch beim Bäcker-Dichter hatte sie so mitgenommen, daß sie sich auf eine Bank im Schatten einiger Platanen setzen mußte, bis sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Neben ihr hörte sie, wie ein Pärchen aufgeregt darüber sprach, daß sie heute abend zu einem Konzert des Pianisten Liszt im Audienzsaal des Rathauses gehen würden. Ein seltsamer Zufall; bei fast ihrer gesamten Reise waren sie immer wieder zusammengetroffen. Der Pianist schien deinen Schritten zu folgen, Florita. Und wenn du dir heute abend eine Pause gönntest und ihn spielen hörtest? Nein, auf keinen Fall. Du konntest deine Zeit nicht mit Konzerten vergeuden wie die Bourgeoisie.
Vom Ausgang der Schlacht von Cangallo hatte sie erst einen Monat später, in Lima, durch den gamarratreuen Oberst Bernardo Escudero erfahren, mit dem du – die Erinnerung an ihn verdrängte Jean Reboul – in deinen letzten Tagen in Arequipa so etwas wie eine Romanze erlebtest, nicht wahr, Florita? Was für eine Geschichte! Am Tag nach dem erneuten Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Orbegoso-Anhängern und Gamarra-Gefolgsleuten erteilte General Nieto seinem Heer den Befehl, sich in Marsch zu setzen und auf die Suche nach dem abgefeimten San Román zu gehen. Er traf die Gamarra-Soldaten in Cangallo an, wo sie im Fluß badeten und sich ausruhten. Nieto stürzte sich auf sie. Es würde ein rascher Sieg sein. Doch wieder beging er einen Fehler, der San Román zum Vorteil gereichte. Dieses Mal verwechselten Nietos Dragoner das Ziel, denn statt ihre Gewehrsalven auf die feindlichen Heerscharen abzufeuern, dezimierten sie ihre eigene Artillerie und verwundeten sogar Oberst Morán. Überrumpeltvon dem vermeintlichen Überraschungsangriff der Gamarra-Anhänger, machten die Soldaten Nietos kehrt und traten überstürzt den Rückzug nach Arequipa an. Gleichzeitig befahl San Román, der nicht wußte, was im gegnerischen Lager geschah, im Glauben, er sei verloren, seinen Truppen ebenfalls, sich angesichts der Überlegenheit des Feindes in Eilmärschen zurückzuziehen. In seiner Flucht, die ebenso verzweifelt und lächerlich war wie die Nietos, hielt er erst inne, als er sich in Vilque, vierzig Meilen entfernt, befand. Das Bild dieser beiden Heere mit ihren Generälen an der Spitze, die voreinander flohen, weil beide sich geschlagen glaubten, verschwand nie aus deiner Erinnerung, Florita. Ein Symbol für das Chaos und die Absurdität des Lebens im Land deines Vaters, dieser rührenden Karikatur einer Republik. Manchmal, wie jetzt, amüsierte dich diese Erinnerung, sie kam dir – in vergrößertem Maßstab – wie eine dieser Molièreschen Komödien voller Irrungen und Wirrungen vor, von denen man hier in Frankreich glaubte, sie fänden nur auf der Bühne statt.
Am Tag nach der Schlacht erfuhr San Román, daß sein Widersacher ebenfalls geflohen war, woraufhin er abermals kehrtmachte und seine Truppen nach Arequipa führte, um es zu besetzen. General Nieto hatte Zeit gehabt, in die Stadt einzumarschieren, die Verwundeten in Kirchen und Hospitälern zurückzulassen und mit dem Rest des Heeres den Rückzug in Richtung Küste anzutreten. Florita verabschiedete ihren Vetter, Oberst Clemente Althaus, mit Tränen in den Augen. Du ahntest, daß du diesen geliebten blonden Barbaren nicht wiedersehen würdest. Du selbst halfst ihm, das Gepäck vorzubereiten, mit Unterwäsche, Tee, Bordeaux-Wein, Tüten mit Zucker, Schokolade und Brot.
Als die Soldaten von General San Román, dem unfreiwilligen Sieger der Schlacht von
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