Das Paradies ist anderswo
Freunde waren auch beunruhigt gewesen, als du den Eingeborenen erklärtest, sie seien nicht verpflichtet, ihre Kinder in die Schule zu bringen, wenn sie weit entfernt von Atuona lebten. Und was war dir passiert? Nichts.
Das Unwetter hatte die umliegende Landschaft verschluckt. Das nahe Meer, die Dächer von Atuona, das Kreuz des Friedhofs am Abhang des Hügels waren hinter einer weißen Gaze verschwunden, die sich in Sekundenschnelle verdichtete. Sie hatte sie schon umzingelt. Der nahe, Hochwasser führende Make Make begann über die Ufer zu treten und wühlte die Steine seines Bettes auf. Paul dachte an die zahllosen Vögel, an die wilden Katzen und an die krähenden Hähne von Hiva Oa, denen das Unwetter den Garaus machte.
»Da Ben die Sache angesprochen hat, wage auch ich, dir einen Rat zu geben«, sagte Ky Dong sehr taktvoll. »Als du zu Beginn des Schuljahres zur Bucht der Verräter gegangen bist und den Maori, die ihre Kinder zu den Geistlichen und Nonnen brachten, erklärt hast, sie seien nicht dazu verpflichtet, wenn sie in entfernten Ortschaften lebten, habe ich dich gewarnt: Was du da tust, ist schwerwiegend. Durch deine Schuld ist die Zahl der Schüler in den Schulen um ein Drittel, vielleicht sogar mehr, gesunken. Der Bischof und die Geistlichen werden dir das nicht verzeihen. Aber das mit den Steuern ist noch schlimmer. Hör auf mit diesem Unsinn, mein Freund.«
Tioka tauchte aus seiner ernsten Reglosigkeit auf und lachte, was er selten tat:
»Die Maori-Familien, die über die halbe Insel laufen mußten, um ihre Kinder zur Schule zu bringen, sind dankbar, daß du sie über diese Befreiung informiert hast, Koke«, kicherte er, als freute er sich über einen gelungenen Streich. »Der Bischof und der Gendarm hatten uns angelogen.«
»Genau das machen sie, die Geistlichen und die Polizisten,lügen«, sagte Koke lachend. »Mein Meister Camille Pissarro, der mich jetzt verachtet, weil ich unter den Primitiven lebe, wäre entzückt, wenn er mich hören könnte. Er war Anarchist. Er haßte die Soutanen und die Uniformen.«
Ein anhaltender, dröhnender, lange nachgrollender Donner hinderte den annamitischen Prinzen daran, zu sagen, was er wollte. Ky Dong verharrte mit offenem Mund und wartete, daß der Himmel sich beruhigte. Da er es nicht tat, hob er die Stimme, um sich inmitten des Gewitters Gehör zu verschaffen:
»Das mit den Steuern ist viel schlimmer, Paul. Ben hat recht, du bist unvorsichtig«, sagte er in seiner geschmeidigen Art, katzenhaft. »Den Eingeborenen zu raten, keine Steuern zu zahlen, ist Meuterei, Umsturz.«
»Du bist gegen den Umsturz, du, den man auf die Teufelsinsel verbannt hat, weil er Indochina von Frankreich lostrennen wollte?« Paul lachte laut auf.
»Das sage nicht nur ich«, erwiderte der ehemalige Terrorist sehr ernst. »Das sagen viele im Dorf.«
»Ich habe es von dem neuen Gendarmen gehört, mit genau diesen Worten«, ließ sich Frébault vernehmen, während er mit seinen Pranken fuchtelte. »Er hat dich auf dem Kieker, Koke.«
»Claverie, dieser Mistkerl? Schade, daß sie den sympathischen Charpillet durch diesen verblödeten Wüterich ersetzt haben.« Paul tat, als würde er ausspucken. »Wißt ihr, seit wann dieser Gendarm mich haßt? Seit er gesehen hat, wie ich nackt im Fluß gebadet habe, in Mataiea, einen Monat nachdem ich zum ersten Mal nach Tahiti gekommen war. Der Hund legte mir eine Strafe auf. Das Schlimmste war aber nicht die Strafe, sondern daß er meinen Traum zerstörte: Tahiti war also nicht mehr das irdische Paradies. Es gab Uniformierte, die die Menschen daran hinderten, ein freies Leben zu führen.«
»Wir meinen es ernst«, erklärte Ben Varney. »Wir wollen dich doch nicht ärgern oder uns einmischen. Wir sinddeine Freunde, Paul. Du kannst Probleme bekommen. Das mit den Schulen war schon schlimm. Aber das mit den Steuern ist schlimmer.«
»Viel schlimmer«, echote Ky Dong. »Wenn die Eingeborenen auf dich hören und keine Steuern mehr zahlen, kommst du als Umstürzler ins Gefängnis. Und wer weiß, ob du das Glück hast, das ich gehabt habe. Du bist kaum ein Jahr hier, und schon hast du dir Feinde gemacht. Du willst doch wohl nicht deine Tage auf der Teufelsinsel beenden, oder?«
»Vielleicht ist ja das, was ich überall suche, ohne es zu finden, in Guayana«, sagte Paul träumerisch, plötzlich ernst geworden. »Trinken wir, meine Freunde. Machen wir uns keine Sorgen um die Zukunft. Außerdem weist dort oben alles darauf hin, daß das Ende der
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