Das Paradies ist anderswo
besucht hatten und nun kamen, um das Fest in diesen luxuriösen Klubs zu beenden, um zu trinken und zu tanzen und ab und zu mit einem oder zwei Mädchen in die Séparées im Oberstock hinaufzugehen, um sie zu beschlafen, um sie auszupeitschen oder sich von ihnen auspeitschen zu lassen, was man in Frankreich le vice anglais nannte. Doch nicht das Bett oder die Peitsche waren das wahre Vergnügen in den finishes, sondern der Exhibitionismus und die Grausamkeit. Es begann um zwei oder um drei Uhr in der Frühe, wenn Lords und Rentiers sich Jacken, Krawatten, Westen und Hosenträger ausgezogen hatten und ihre Angebote machten. Sie boten den Frauen und Mädchen jeden Alters glänzende, klingende Guineen, damit sie die von ihnen gemixten Getränke zu sich nahmen, die sie ihnen fröhlich einflößten, wobei sie sich unter lautem Gejohle gegenseitig mit Sprechchören anfeuerten. Am Anfang gaben sie ihnen Gin, Apfelwein, Bier, Whisky, Cognac, Champagner zu trinken, doch dann vermischten sie den Alkohol mit Essig, Senf, Pfeffer und Schlimmerem, um zuzusehen, wie die Frauen, nur, um sich diese Guineen zu verdienen, die Gläser in einem Zug leerten, mit angewidert verzerrtem Gesicht zu Boden stürzten, sich wanden und erbrachen. Dann knöpften sich die Betrunkensten oder die Perversesten unter Applaus und angespornt von Sprechchören den Hosenschlitz auf und bepinkelten sie, und besonders Verwegene masturbierten auf sie und verschmierten sie mit ihrem Sperma. Wenn die Nachtschwärmer dann um sechs oder sieben Uhr morgens des Vergnügens überdrüssig waren und satt von Alkoholund Perversionen in die tumbe Benommenheit der Betrunkenen versanken, betraten die Lakaien das Lokal und schleppten sie zu ihren Fiakern und Berlinen, um sie zu ihren Herrensitzen zu bringen, wo sie ihren Rausch ausschlafen konnten.
Nie zuvor hattest du so geweint, Flora Tristan. Nicht einmal, als du von Alines Mißbrauch durch André Chazal erfahren hattest, waren deine Tränen so geflossen wie nach diesen Morgenstunden in den finishes von London. Damals faßtest du den Entschluß, mit Olympe zu brechen, um deine ganze Zeit der Revolution zu widmen. Nie zuvor hattest du ein solches Mitleid, eine solche Bitternis, eine solche Wut empfunden. Jetzt durchlebtest du diese Gefühle noch einmal in dieser schlaflosen Nacht in Carcassonne, während du an die dreizehn-, vierzehn- oder fünfzehnjährigen Kurtisanen dachtest – eine von ihnen hättest du sein können, wenn man dich während deiner Anstellung bei der Familie Spence entführt hätte –, die für eine Guinee diese Mixturen tranken, für eine Guinee zuließen, daß das flüssige Gift ihnen die Eingeweide verbrannte, für eine Guinee erlaubten, daß man sie bespuckte, bepinkelte und mit Samen bespritzte, damit die Reichen Englands in ihrem leeren, stumpfsinnigen Leben einen Augenblick Spaß hatten. Für eine Guinee! Mein Gott, mein Gott, wenn es dich gibt, dann kannst du nicht so ungerecht sein und Flora Tristan das Leben nehmen, bevor sie die universelle Arbeiterunion auf den Weg gebracht hat, die den Übeln dieses Tränentals ein Ende machen wird. »Gib mir noch fünf, noch acht Jahre. Das wird mir genügen, lieber Gott.«
Carcassonne war natürlich keine Ausnahme von der Regel. In den Tuchfabriken, wo man ihr den Zutritt verwehrte, verdienten die Männer eineinhalb bis zwei Francs täglich und die Frauen, für die gleiche Arbeit, die Hälfte. Die Arbeitszeit betrug zwischen vierzehn und achtzehn Stunden am Tag. In den Seiden- und Wollspinnereien arbeiteten siebenjährige Kinder für acht Centimes täglich,obwohl dies gesetzlich verboten war. Sie begegnete einem außerordentlich feindseligen Klima. Ihre Reise hatte sich in der Gegend herumgesprochen, und in der letzten Zeit wetzten die Feinde in den Städten die Messer für ihren Empfang. Flora entdeckte, daß die Fabrikanten in Carcassonne Flugblätter in Umlauf gebracht hatten, auf denen stand, sie sei eine »Bastardin, Aufwieglerin und Sittenverderberin, die ihren Mann und ihre Kinder verlassen und sich Liebhaber gehalten hat und jetzt als Saintsimonistin und ikarische Kommunistin auftritt«. Über letzteres mußte sie lachen. Wie konnte man gleichzeitig Saintsimonistin und ikarische Kommunistin sein? Die beiden Gruppen verabscheuten einander. Gewiß, du warst vor einigen Jahren Sympathisantin Saint-Simons gewesen, aber das war deine Vorgeschichte. Und Etienne Cabets Roman Reise nach Ikarien, der ihm so viele Anhänger in Frankreich zugeführt
Weitere Kostenlose Bücher