Das Paradies ist anderswo
und ein Salär für die Parlamentsmitglieder eingeführt werden sollten, was den Arbeitern erlauben würde, sich für einen Sitz zu bewerben. Die Chartistenbewegung existierte schon seit 1836, aber als Flora im Juni 1839 nach London kam, hatte sie einen Höhepunkt erreicht. Sie verfolgte ihre Demonstrationen, Veranstaltungen und Unterschriftensammlungen und informierte sich über ihre ausgezeichnete Organisation mit Komitees in Dörfern, Städten und Fabriken. Du warst beeindruckt. Die Aufregung hielt dich ganze Nächte wach, ständig die Märsche Tausender und Abertausender Arbeiter durch die Straßen Londons vor Augen. Eine wahre zivile Armee. Wer könnte sich ihnen entgegenstellen, wenn alle Ausgebeuteten und Armen der Welt sich wie die Chartistenorganisierten? Frauen und Arbeiter vereint wären unbesiegbar. Eine Kraft, imstande, die Menschheit zu revolutionieren, ohne einen einzigen Schuß abzufeuern.
Als sie erfuhr, daß der Nationalkonvent der Chartistenbewegung in diesen Tagen in London stattfand, erkundigte sie sich nach dem Versammlungsort und erschien in einem kühnen Akt in der Doctor Johnson’s Tavern, einem schäbig aussehenden Lokal in einer Seitengasse der Fleet Street. In einem großen, verrauchten und feuchten, schlecht beleuchteten Raum, der nach billigem Bier und gekochtem Kohl roch, drängten sich etwa hundert führende Chartisten, darunter die Vorsitzenden O’Brien und O’Connor. Sie debattierten darüber, ob es angebracht sei, zur Unterstützung der Volkscharta einen Generalstreik auszurufen. Als man dich fragte, wer du seist und was dich hergeführt habe, erklärtest du, ohne daß dir die Stimme zitterte, du seist gekommen, um Grüße von den Arbeitern und Frauen Frankreichs an ihre britischen Brüder und Schwestern zu überbringen. Sie schauten dich verwundert an, aber sie warfen dich nicht hinaus. Es gab auch eine Handvoll Arbeiterinnen, die mißtrauisch deine bürgerliche Kleidung musterten. Mehrere Stunden lang hörtest du zu, wie sie debattierten, Vorschläge austauschten, über Anträge abstimmten. Du fühltest dich wie in Trance. Ja, diese Kraft, mit allen Ländern Europas multipliziert, könnte die Welt verändern, könnte den Enterbten das Glück bringen. Als O’Brien und O’Connor im Verlauf der Sitzung fragten, ob die französische Delegierte den Wunsch habe, zur Versammlung zu sprechen, zögertest du nicht eine Sekunde. Du stiegst auf das Rednerpodium, gratuliertest ihnen und ermuntertest sie in deinem unsicheren Englisch, weiterhin allen Armen der Welt ein Vorbild an Organisation und Kampf zu sein. Und beendetest deine kurze Ansprache mit einem Appell, der deine friedliebenden Zuhörer in leichte Verwirrung stürzte: »Zünden wir die Schlösser an, brothers !«
Jetzt mußtest du lachen, wenn du an diesen aufrührerischenAppell dachtest, Florita. Denn du glaubtest nicht an die Gewalt. Du hattest nur durch ein dramatisches Bild ausdrücken wollen, wie bewegt du warst. Was für ein Privileg, dort zu sein, unter diesen ausgebeuteten Brüdern, die aufzubegehren begannen. Du warst für die Liebe, die Ideen, die Überzeugungsarbeit, gegen die Kugeln und das Schafott. Deshalb erzürnten dich diese grimmigen Bürger von Carcassonne, die glaubten, die Lösung bestehe darin, Regimenter zu mobilisieren und auf den öffentlichen Plätzen Guillotinen zu errichten. Was konnte man von derart dummen Leuten erwarten? Der Bourgeoisie war nicht zu helfen, ihr Egoismus würde sie immer daran hindern, das große Ganze zu erkennen. Du dagegen hattest mehr denn je die Gewißheit, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Und dieser bestand darin, Frauen und Arbeiter zusammenzubringen, die einen und die anderen in einem grenzüberschreitenden Bündnis zu organisieren, das keine Polizei, keine Armee, keine Regierung vernichten könnte. Dann würde der Himmel keine Abstraktion mehr sein, er würde seinen Platz in den Predigten der Geistlichen und den leichtgläubigen Köpfen der Gläubigen verlassen und Geschichte werden, alltägliche Wirklichkeit für alle Sterblichen. »Ich bewundere dich, Florita«, rief sie begeistert aus. »Lieber Gott, es würde genügen, wenn du zehn Frauen wie mich auf diese Welt schicktest, um Gerechtigkeit auf Erden herrschen zu lassen.«
Unter den Fourieristen von Carcassonne war Hugues Bernard die auffälligste Gestalt. Mitglied in Geheimgesellschaften Frankreichs und der Karbonari in Italien, wollte er um jeden Preis den Bürgerkrieg. Er war eloquent und mitreißend,
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