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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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hatte, hattest du zwar gelesen (in deinem Besitz befand sich die von ihm gewidmete Erstausgabe von 1840), aber du hattest nie die geringste Sympathie für Cabet oder seine Schüler empfunden, diese Überläufer der Gesellschaft, die sich »Kommunisten« nannten. Im Gegenteil, stets hattest du sie in Wort und Schrift kritisiert, weil sie sich unter dem Taktstock ihres Dirigenten, dieses Abenteurers, der vor seiner Wandlung zum Propheten Mitglied des Karbonaribundes und Generalprokurator in Korsika gewesen war, darauf vorbereiteten, in irgendein fernes Land zu reisen – nach Amerika, China, in den afrikanischen Urwald –, um an einem weltabgeschiedenen Ort die vollkommene Republik zu gründen, die in Reise nach Ikarien beschrieben wurde, eine Gesellschaft ohne Geld, ohne Hierarchien, ohne Steuern, ohne Obrigkeit. Gab es etwas Egoistischeres und Feigeres als diesen eskapistischen Traum? Nein, es ging nicht darum, aus dieser unvollkommenen Welt zu fliehen und ein himmlisches Refugium für eine kleine Gruppe Auserwählter zu gründen, das allen anderen verschlossen wäre. Es ging darum, gegen die Unvollkommenheiten dieser Welt in ebendieser Welt zukämpfen, sie zu verbessern, sie zu verändern, bis aus ihr eine glückliche Heimat für alle Sterblichen würde.
    Am dritten Tag in Carcassonne erschien im Hôtel Bonnet ein Mann in vorgerücktem Alter, der seinen Namen nicht nennen wollte. Er gestand ihr, er sei Polizist und von seinen Vorgesetzten beauftragt, ihren Schritten zu folgen. Er war freundlich und leicht schüchtern, sprach ein mangelhaftes Französisch, kannte zu ihrer Überraschung die Fahrten einer Paria und erklärte sich zu ihrem Bewunderer. Er informierte sie, daß die Behörden der ganzen Region Anweisungen erhalten hatten, ihr das Leben schwerzumachen und sie mit allen Leuten zu entzweien, denn sie sahen in ihr eine Aufwieglerin, die unter den Arbeitern den Umsturz gegen die Monarchie predige. Von ihm habe Flora jedoch nichts zu befürchten: Er werde nichts tun, was ihr schaden könne. Er war so bewegt, als er ihr diese Dinge sagte, daß Flora ihn in einer plötzlichen Anwandlung auf die Stirn küßte: »Sie wissen nicht, wie gut mir Ihre Worte tun, mein Freund.«
    Er machte ihr Mut, zumindest ein paar Stunden lang. Doch die Realität meldete sich zurück, als ein einflußreicher Anwalt plötzlich eine Verabredung mit ihr absagte. Maître Trinchant sandte ihr ein harsches Schreiben: »Aufgrund Ihrer ikarisch-kommunistischen Gesinnung, von der ich erfahren habe, ist es mir unmöglich, Sie zu empfangen. Wir würden einen Taubstummendialog führen.« »Meine Aufgabe besteht ja gerade darin, den Tauben die Ohren und den Blinden die Augen zu öffnen«, antwortete ihm Madame-la-Colère.
    Sie war nicht niedergeschlagen, aber es tat ihr nicht gut, sich an ihre Besuche in den Bordellen und finishes in London zu erinnern. Doch sie gingen ihr nicht aus dem Kopf. Trotz der vielen traurigen Dinge, die sie bei ihren Gängen durch die Unterwelt des Kapitalismus gesehen hatte, war ihr nichts empörender erschienen als der Handel mit diesen unglücklichen Geschöpfen. Doch darüber vergaß sie nicht die Besuche, die sie in Begleitung eines Vertreters deranglikanischen Kirche den Arbeitervierteln der Londoner Peripherie abgestattet hatte, die sich aneinanderreihenden engen, schmutzigen Räume mit ständig ratternden, von Pedalen angetriebenen Webstühlen, vollgestopft mit nackten Kindern, die im Dreck herumkrochen, und die Klagen, die wie eine Litanei aus allen Mündern kamen: »Mit achtunddreißg, vierzig Jahren betrachtet man uns als unnütz und entläßt uns aus den Fabriken. Wovon sollen wir leben, milady ? Die Lebensmittel und die gebrauchte Kleidung, die uns die Pfarrgemeinden geben, reichen nicht einmal für die Kinder.« In der großen Gasfabrik in der Horsferry Road Westminster wärst du fast erstickt, weil du unbedingt aus der Nähe sehen wolltest, wie die mit einem simplen Lendenschurz bedeckten Arbeiter die Koksasche aus Öfen kratzten, die dich an die Schmiede des Vulcanus denken ließen. Du brauchtest nur fünf Minuten da zu sein, um in Schweiß auszubrechen und zu fühlen, wie die Hitze dir den Atem nahm. Sie aber blieben Stunden dort, brieten bei lebendigem Leibe, und wenn sie das Wasser in die grob gesäuberten Kessel schütteten, schluckten sie einen dichten Dampf, der ihnen die Eingeweide ebenso schwärzen mußte wie die Haut. Nach dieser Tortur konnten sie sich jeweils zu zweit zwei Stunden lang auf

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