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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Matratzen ausruhen. Der Leiter der Fabrik sagte dir, niemand ertrage diese Arbeit länger als sieben Jahre, bevor er an Tuberkulose erkranke. Das war der Preis für die mit Gaslampen erleuchteten Bürgersteige der Oxford Street, im Herzen des West End, der elegantesten Straße der Welt!
    Die drei Gefängnisse, die du besuchtest, Newgate, Coldbath Fields und Penitenciary, waren weniger unmenschlich als die Höhlen der Arbeiter. Beim Anblick der mittelalterlichen Folterinstrumente, die im Eingangsbereich von Newgate die Häftlinge empfingen, lief dir ein Schauer über den Rücken. Doch die Einzel- und Sammelzellen waren sauber, und die eingesperrten Männer und Frauen – zumeist Diebe und Diebinnen – aßen besser als die Fabrikarbeiter. In Newgate erlaubte dir der Direktor,mit zwei Mördern zu sprechen, die zum Tod am Galgen verurteilt waren. Der erste, menschenscheu, war verschlossen und stumm, und du konntest kein Wort aus ihm herausbringen. Aber der zweite, lächelnd, freundlich und froh, für ein paar Minuten das Sprechverbot zu durchbrechen, schien unfähig, einer Fliege etwas zuleide zu tun. Und doch hatte er einen Offizier der Armee auf grausame Weise umgebracht. Wie hatte er das tun können, höflich und sympathisch, wie er war? Das erklärte dir Doktor John Elliston, Professor der Medizin und fanatischer Schüler von Franz Joseph Gall, dem Begründer der Phrenologie:
    »Weil dieser Bursche zwei außergewöhnlich entwickelte Höcker an der hinteren Schädelbasis hat: das Knöchelchen des Stolzes und das der Schande. Berühren Sie sie, Madam. Hier, hier. Fühlen Sie sie? Er war vom Schicksal dazu verdammt, ein Mörder zu werden.«
    Nur zwei Dinge wagte Flora am englischen Strafsystem zu kritisieren: das Sprechverbot, das die Häftlinge zwang, niemals den Mund zu öffnen – ein einziges lautes Wort zog die schwersten Strafen nach sich –, und daß man ihnen das Arbeiten untersagte. Der gebildete Direktor von Coldbath Fields, ein ehemaliger Kolonialsoldat, versicherte ihr, das Schweigen begünstige die Annäherung an Gott, mystische Zustände, Reue und Besserungwünsche. Und was die Arbeit betreffe, so sei die Frage im Parlament debattiert worden. Man sei zu dem Schluß gekommen, daß es ungerecht gegenüber den Arbeitern sei, die Häftlinge arbeiten zu lassen, da die Verbrecher in unlauteren Wettbewerb zu ihnen treten würden, wenn sie sich für niedrigere Löhne verdingten. In England gab es keine Altersgrenze, um verurteilt zu werden, und in den drei Gefängnissen traf Flora acht- und neunjährige Kinder an, die Strafen für Diebstahl und andere Vergehen verbüßten.
    Doch obwohl es einem das Herz zerriß, diese Kinder hinter Gittern zu sehen, sagte sich Flora, daß es vielleicht besser für sie war; zumindest aßen sie und schliefen unter einem Dach, in sauberen Zellen. In der Gemeinde vonSaint Gilles dagegen, in dem von der Oxford Street und der Tottenham Court Road begrenzten Häusergeviert, im Viertel der Iren – Bainbridge Street – starben die Kinder buchstäblich vor Hunger. Sie waren zerlumpt und schliefen fast unter freiem Himmel, in Konstruktionen aus Karton und Blech, ohne Schutz vor den Regenfällen. Umgeben von schmutzigen Wasserpfützen, fauligen Ausdünstungen, Schlamm, Fliegen und allen Arten von Ungeziefer – an jenem Abend entdeckte Flora in ihrer Pension, daß ihre Kleider vom Besuch im Irenviertel voller Läuse waren –, hatte sie das Gefühl, sich in einem Alptraum zu bewegen, zwischen Skeletten, alten Männern, die auf Häufchen von Stroh hockten, und zerlumpten Frauen. Überall lag Unrat, und Ratten schlüpften zwischen den Beinen der Leute hindurch. Nicht einmal wer Arbeit hatte, konnte seine Familie ernähren. Alle waren abhängig von den Nahrungsspenden der Kirchen, um ihre Kinder mit Essen zu versorgen. Verglichen mit der Misere und dem Verfall der Iren, erschien ihr das Viertel der armen Juden um die Petticoat Road weniger finster. Obwohl extreme Armut herrschte, gab es einen aktiven Altkleiderhandel in kleinen Läden und Kellern, zwischen denen sich im hellen Tageslicht mit viel Getue auch halbnackte jüdische Huren anboten. Und der Markt der Field Lane, wo zu einem Spottpreis sämtliche in den Straßen Londons gestohlenen Taschentücher zum Verkauf geboten wurden – man mußte diese Gasse ohne Brieftasche, Uhren oder Broschen betreten –, erschien ihr menschlicher und sogar sympathisch mit seinem entfesselten Stimmengewirr und den laut ausgetragenen pittoresken Debatten

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