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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Kolonialismus predigte, war sie bewegt. Kaum ergriff dieser häßliche Mann mit dem Aussehen eines sonntäglich gekleideten Kutschers das Wort und forderte die Abschaffung der Sklaverei und das allgemeine Wahlrecht, wurde er schön, strahlte Würde und Idealismus aus. Er war ein so glänzender Redner, daß alle ihm mit großer Aufmerksamkeit zuhörten. Bei O’Connells Worten kam Flora die Idee des Volksanwaltes, die sie in ihren Plan der Arbeiterunion aufnahm: Die Bewegung der Frauen und Arbeiter würde einen Sprecher ins Parlament bringen und ihm einen Lohn zahlen, damit er dort die Interessen der Armen vertreten konnte.
    In diesen vier Monaten verkleidete sie sich oft als Mann. Sie hatte sich vorgenommen, das Leben zu erkunden, das die hunderttausend Prostituierten führten, die sich angeblich auf Londons Straßen herumtrieben, und was in den Bordellen der Stadt geschah, und sie hätte diese Lasterhöhlen nicht erforschen können, ohne ihr Geschlecht hinter den Hosen und dem Gehrock eines Mannes zu verbergen. Dennoch war es gefährlich, sich in gewisse Viertel zu begeben. In der Nacht, in der sie die Waterloo Road ablief, von ihrem Anfang in der Vorstadt bis zur Waterloo Bridge, waren die beiden Freunde der Chartistenbewegung, die sie begleiteten, mit Stöcken bewaffnet, um die Scharen kleiner Diebe und Händelsucher zu entmutigen, von denen es nur so wimmelte zwischen den Kupplerinnen, Zuhältern und Huren. Sie drängten sich auf den Bürgersteigen, Straßenzug um Straßenzug, nutzten die Abwesenheit der Polizei und raubten vor aller Augen die einsamen Kunden aus. Die Ware bot sich schamlos den Passanten an, die zu Fuß, zu Pferde oder in der Kutsche auf der Fahrbahn vorbeizogen und das verfügbare Material prüften. Theoretisch lag das Mindestalter für den Menschenhandel bei zwölf Jahren. Doch Flora hätte geschworen, daß es unter den schmutzigen, geschminkten und halbnackten kleinen Skeletten, die von den Kupplerinnen und Zuhältern offeriert wurden,Mädchen und Jungen von zehn oder sogar acht Jahren gab, kleine Kinder mit abwesendem oder betäubtem Blick, die nicht zu begreifen schienen, was ihnen geschah. Die Ungeniertheit und Obszönität, mit denen die Dienstleistungen angepriesen wurden (»dieses Püppchen können Sie sich von hinten vornehmen, Sir«, »meine Stolze läßt sich den Hintern peitschen und ist eine wahre Künstlerin im Schwanzlecken, Chef«), ließen Wellen von Haß in ihr aufsteigen. Es fehlte nicht viel, und sie wäre in Ohnmacht gefallen. Während du im Schutz der Dunkelheit, die ab und zu von den rötlich flackernden Lampen der Freudenhäuser erhellt wurde, die endlose Allee hinuntergingst, während du die widerwärtigen Dialoge und die unangenehmen Stimmen der Betrunkenen hörtest, hattest du den Eindruck einer makabren Phantasmagorie, eines mittelalterlichen Hexensabbats. War dies nicht so etwas wie die Hölle auf Erden? Gab es etwas Teuflischeres als das Los dieser Mädchen und Jungen, die für ein paar Pennies der Wollust dieser Widerlinge angeboten wurden?
    Ja, das gab es, Florita. Schlimmer als die Prostitution im East End mit ihren Mädchen und Jungen, die oft von spezialisierten Banden auf dem Land oder in den Dörfern entführt und an die Londoner Bordelle und Freudenhäuser verkauft wurden, waren die finishes im West End, in der Londoner Innenstadt, dem Viertel der eleganten Vergnügungen. Dort erlebtest du den Gipfel der Schlechtigkeit. Die finishes waren die Bordell-Tavernen, die Dirnen-Lokale, in denen die Reichen, Adligen, Privilegierten dieser Gesellschaft von Herren und vermeintlich freien Sklaven ihre nächtlichen Orgien beendeten. Du besuchtest sie als Geck verkleidet, gemeinsam mit einem jungen Mann der französischen Gesandtschaft, der deine Bücher gelesen hatte und dir die männliche Kleidung lieh, nicht ohne vorher zu versuchen, dich davon abzubringen, denn, so versicherte er dir, die Erfahrung werde dich mit Entsetzen erfüllen. Er hatte völlig recht. Du, die glaubte, alles über das menschliche Tier zu wissen, hattest noch nicht gesehen,welche Extreme die Erniedrigung der Frau erreichen konnte.
    Die Dirnen der finishes waren nicht die ausgemergelten, oft tuberkulosekranken Prostituierten der Waterloo Road. Es waren teuer und in auffälligen Farben gekleidete, mit Schmuck behängte, grell geschminkte Kurtisanen, die ab Mitternacht, aufgereiht wie die Tänzerinnen einer Music-Hall, die reichen Protze empfingen, die zu Abend gegessen oder Theater oder Konzerte

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