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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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zwischen Verkäufern und Kunden, die um Nachlässe feilschten.
    In der Irrenanstalt, dem Bethleen Hospital, passierte etwas, das dir das Blut in den Adern gefrieren ließ, Florita. Weder deine Freunde von der Chartistenbewegung noch die Oweniten teilten deine These, daß der Wahnsinn eine soziale Krankheit war, eine Folge der Ungerechtigkeit, eine dunkle, instinktive Rebellion gegen die etabliertenMächte. Und deshalb begleitete dich niemand auf deinem Weg durch die Irrenhäuser Londons. Das Bethleen Hospital war alt, sehr sauber, hatte gepflegte Gärten und eine gute Versorgung. Plötzlich sagte der Direktor zu dir, während er dich herumführte, sie hätten einen Landsmann von dir dort, einen französischen Seemann namens Chabrié. Wolltest du ihn sehen? Dir stockte der Atem. War es möglich, daß der gute Zacharie Chabrié von der Méxicain , dem du in Arequipa jenen bösen Streich gespielt hattest, um dich von seiner Liebe zu befreien, hier gelandet war, im Wahnsinn? Du durchlebtest einige angstvolle Minuten, bis sie die fragliche Person brachten. Er war es nicht, sondern ein junger, hübscher Bursche, der glaubte, er sei Gott. Er erklärte es dir in bedächtigem Französisch und sehr behutsam: Er sei der neue Messias, auf die Erde gesandt, »damit die Knechtschaft ein Ende fände und um die Frau vor dem Mann und den Armen vor dem Reichen zu retten«. »Wir beide führen den gleichen Kampf, mein guter Freund«, sagte Flora lächelnd zu ihm. Er nickte mit verschwörerischem Augenzwinkern.
    Diese Reise nach England im Jahre 1839 war eine lehrreiche – und anstrengende – Erfahrung gewesen. Ihr Ergebnis war nicht nur dein Buch, Spaziergänge durch London , das Anfang Mai 1840 erschien und die bürgerlichen Journalisten und Kritiker anders als das Publikum, das in wenigen Monaten zwei Auflagen kaufte, durch seine Radikalität und Offenheit erschreckte. Sondern auch deine Idee des Bündnisses zwischen den beiden großen Opfern der Gesellschaft, den Frauen und den Arbeitern, deine Broschüre L’Union Ouvrière und dieser Kreuzzug. Seit fünf Jahren versuchtest du nun schon, Andalusierin, diesen Plan in einer übermenschlichen Anstrengung in die Tat umzusetzen!
    Würde es dir gelingen? Wenn dein Körper nicht versagte, ja. Wenn Gott dir noch ein paar Jahre Leben schenkte, bestimmt. Doch du warst nicht sicher, daß dir die nötigen Jahre vergönnt sein würden. Vielleicht weil Gottnicht existierte und dich deshalb nicht erhören konnte oder weil er existierte und zu sehr mit transzendentellen Angelegenheiten beschäftigt war, um sich mit so nichtigen materiellen Dingen wie deinen Koliken und deiner kaputten Gebärmutter zu befassen. Jeden Tag, jede Nacht fühltest du dich schwächer. Zum erstenmal bedrängte dich die Vorahnung einer Niederlage.
    Auf der letzten Versammlung in Carcassonne erbot sich einer der chevaliers , der Flora bislang nicht weiter aufgefallen war, der Anwalt Théophile Marconi, spontan, ein Komitee der Arbeiterunion in der Stadt zu organisieren. Er sei nach anfänglichen Vorbehalten zu dem Schluß gelangt, daß Floras Strategie solider sei als die Verschwörungs- und Bürgerkriegspläne seiner Freunde. Der solidarische Bund von Frauen und Arbeitern, dessen Ziel es wäre, die Gesellschaft zu ändern, erscheine ihm klug und durchführbar. Nach dem Treffen mit Marconi begleitete ein junger spitzbübisch wirkender Arbeiter namens Lafitte sie bis zum Hotel und brachte sie zum Lachen mit einem Plan, den er, wie er ihr gestand, ausgeheckt habe, um den bürgerlichen Phalanstère -Anhängern einen Streich zu spielen. Er würde sich als Fourierist ausgeben und den chevaliers eine Geldanlage offerieren, durch die sie ihr Kapital verdoppeln könnten, indem sie zu einem Spottpreis ein paar gestohlene Webstühle kauften. Wenn er das Geld beisammen hätte, würde er sie verhöhnen: »Meine Herren, die Habgier ist Ihr Verderben. Dieses Geld geht in die Kassen der Arbeiterunion, für die Revolution.« Er scherzte, doch in seinen Augen lag ein Flackern, das Flora beunruhigte. Und wenn sich nun die Revolution in ein Geschäft für ein paar Spitzbuben verwandelte? Beim Abschied bat der sympathische Lafitte sie um Erlaubnis, ihr die Hand küssen zu dürfen. Sie reichte sie ihm und nannte ihn lachend ein »angehendes Mitglied der guten Gesellschaft«.
    In der letzten Nacht in der ummauerten Stadt träumte sie von dem eisernen Schöpflöffel und seinem Totengeklapper. Es war eine hartnäckige Erinnerung, die

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