Das Paradies ist anderswo
nach frischen Blumen duftende Zimmer mit den feinen Leinenvorhängen, die das Licht dämpften, hatte nichts mit deinem bescheidenen Hotelzimmer zu tun. Es war das Haus von Charles und Elise Lemonnier, die am Vorabend, nach deiner Ohnmacht im Grand Théâtre, darauf bestanden hatten, dich mit zu sich nach Hause zu nehmen. Dort würdest du besser versorgt sein als im Hotel oder im Krankenhaus. So war es. Charles war Anwalt und Philosophielehrer, und seine Ehefrau Elise betreute Ausbildungsstätten für Kinder und Jugendliche. Sie waren ergebene Saintsimonisten, Freunde von Vater Prosper Enfantin, idealistisch, gebildet, großzügig, und widmeten ihr Leben der Arbeit für die universelle Brüderlichkeit und das von Saint-Simon gepredigte »neue Christentum«. Sie grollten dir nicht im geringsten wegen der Abfuhr vor einem Jahr, als du dich geweigert hattest, sie kennenzulernen. Sie hatten deine Bücher gelesen und bewunderten dich.
Das Ehepaar kümmerte sich in den nächsten Wochen mit der größten Gewissenhaftigkeit um Flora. Sie gaben ihr das beste Schlafzimmer des Hauses, riefen einen angesehenen Arzt aus Bordeaux, Doktor Mabit jun., und stellten eine Krankenschwester ein, Mademoiselle Alphine, die Tag und Nacht bei der Kranken sein sollte. Sie bezahlten die Arztbesuche und die Medikamente und erlaubten nicht, daß Flora auch nur davon sprach, ihnen die Ausgaben zu ersetzen.
Doktor Mabit jun. erklärte, es könne sich um Cholera handeln. Am nächsten Tag, nach einer weiteren Untersuchung, korrigierte er sich und sagte, es handle sich wahrscheinlich eher um Typhus. Trotz des Zustandes totaler Erschöpfung, in dem sich die Kranke befand, zeigte er sich optimistisch. Er verschrieb ihr eine gesunde Ernährung, absolute Ruhe, Abreibungen und Massagen und einen stärkenden Trank, den sie jede halbe Stunde, Tag undNacht, zu sich nehmen sollte. An den beiden ersten Tagen reagierte Flora positiv auf die Behandlung. Am dritten Tag litt sie jedoch unter Blutandrang im Kopf und sehr hohem Fieber. Sie verfiel stundenlang in einen halb bewußtlosen Zustand und delirierte. Das Ehepaar Lemonnier berief einen Ärzterat ein, unter dem Vorsitz einer lokalen Berühmtheit, Doktor Gintrac. Nachdem die Ärzte sie untersucht und sich miteinander beraten hatten, gestanden sie eine gewisse Ratlosigkeit ein. Dennoch glaubten sie, daß sie gerettet werden könne, obwohl ihr Zustand zweifellos ernst sei. Man dürfe die Hoffnung nicht verlieren und nicht zulassen, daß die Kranke sich ihres Zustands bewußt werde. Sie verschrieben Aderlässe und Saugnäpfe, zusätzlich zu weiteren Tränken, jetzt alle fünfzehn Minuten. Zur Entlastung von Mademoiselle Alphine, die Flora mit Hingabe pflegte und erschöpft war, stellte das Ehepaar Lemonnier eine weitere Schwester für die Krankenwache ein. Als die Hausherren Flora in einem der Augenblicke, in denen sie bei klarem Bewußtsein war, fragten, ob sie nicht einen Familienangehörigen bei sich haben wolle – vielleicht ihre Tochter Aline? –, zögerte sie nicht: »Eléonore Blanc, aus Lyon. Sie ist auch meine Tochter.« Eléonores Ankunft in Bordeaux – das geliebte Gesicht, blaß und bebend, das sich voll Liebe über sie beugte – gab Flora das Vertrauen, den Kampfeswillen, die Liebe zum Leben zurück.
In den Anfängen ihrer Kampagne für die Arbeiterunion, vor eineinhalb Jahren, war La Ruche Populaire sehr anständig zu ihr gewesen, im Gegensatz zu der anderen Arbeiterzeitung, L’Atelier , die sie zuerst ignoriert und dann mit der Bemerkung, sie wolle »ein O’Connell in Röcken« sein, lächerlich gemacht hatte. La Ruche dagegen organisierte zwei Debatten, mit dem Ergebnis, daß vierzehn der fünfzehn Anwesenden für einen von Flora verfaßten Appell an die Arbeiter und Arbeiterinnen Frankreichs stimmten, der sie aufrief, sich der künftigen Arbeiterunion anzuschließen. Zwar überwand sie schon bald ihre anfängliche Angst, in der Öffentlichkeit zu sprechen – sie tat es unbefangenund schlug sich hervorragend bei den anschließenden Debatten –, aber sie empfand immer ein Gefühl von Enttäuschung, weil an diesen Versammlungen, ihren Aufforderungen zum Trotz, fast niemals Frauen teilnahmen. Wenn sich doch einige einfanden, waren sie so eingeschüchtert und verzagt, daß sie Mitleid (aber auch Wut) empfand. Selten wagten sie, den Mund aufzumachen, und wenn eine es tat, schaute sie zuerst die anwesenden Männer an, als bäte sie um ihr Einverständnis.
Die Veröffentlichung von L’Union
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