Das Paradies ist anderswo
Zeitschrift verhindert, die er gemeinsam mit Ruge herausgab und die der Gruppe als Tribüne diente: die Deutsch-Französischen Jahrbücher . Du lerntest ihn jedoch kurz darauf unter skurrilen Umständen kennen, in einer kleinen Druckerei auf dem linken Seineufer, der einzigen, die bereit gewesen war, L’Union Ouvrière zu drucken. Du überwachtest gerade den Druck jener Seiten auf der alten, pedalbetriebenen Presse, als ein junger Mann mit langem Bart, schwitzend und hochrot vor Empörung, in einem grauenhaften, kehligen Französisch, und um sich spuckend, zu protestieren begann. Warum hielt sich die Druckerei nicht an das ihm gegebene Versprechen und vertagte den Druck seiner Zeitschrift, um »die literarischen Anwandlungen dieser unbekannten Dame« vorzuziehen?
Natürlich erhob sich Madame-la-Colère von ihrem Stuhl und trat ihm entgegen:
»Literarische Anwandlungen, haben Sie gesagt?« rief sie ebenso laut wie der Hitzkopf. »Lassen Sie sich gesagt sein, Monsieur, daß mein Buch L’Union Ouvrière heißt und die Geschichte der Menschheit ändern kann. Wit welchem Recht krähen Sie hier wie ein Kapaun herum?«
Der Schreihals brummte etwas auf deutsch in den Bart und gab dann zu, daß er diesen Ausdruck nicht verstand. Was war das, ein »Kapaun«?
»Schlagen Sie das in einem Wörterbuch nach und verbessern Sie Ihr Französisch«, riet ihm Madame-la-Colère lachend. »Und lassen Sie sich dabei gleich diesen Stachelschweinbart abschneiden, mit dem Sie wie ein Schmutzfink aussehen.«
Rot und stotternd sagte der Mann, das mit dem »Stachelbeerwein« verstehe er auch nicht und daher sei es sinnlos, die Diskussion fortzusetzen, Madame. Er verabschiedete sich mit einer übellaunigen Verbeugung. Später erfuhr Flora durch den Besitzer der Druckerei, daß der reizbare Ausländer Karl Marx gewesen war, der Freund von Arnold Ruge. Sie stellte sich amüsiert seine Überraschung vor, wenn dieser mit ihm an einem Donnerstag bei ihr in der Rue du Bac erscheinen und Flora der Begrüßung zuvorkommen und mit ausgestreckter Hand sagen würde: »Der Herr und ich sind alte Bekannte.« Doch Arnold Ruge brachte ihn nie mit.
Die beiden Wochen, die Eléonore Blanc in Bordeaux verbrachte, Tag und Nacht an Floras Seite, ließen die Ärzte zu der Überzeugung gelangen, daß eine langsame, aber echte Besserung der Kranken eingesetzt hatte. Sie wirkte munter, trotz ihrer großen Magerkeit und ihrer körperlichen Leiden. Sie hatte starke Schmerzen im Bauch und in der Gebärmutter und manchmal auch im Kopf und im Rücken. Die Ärzte verschrieben ihr kleine Portionen Opium, die sie beruhigten und mehrere Stunden lang in einen Dämmerzustand versetzten. In ihren klarsichtigen Momenten unterhielt sie sich ungezwungen, und ihr Gedächtnis schien in gutem Zustand zu sein. (»Bist du meinem Rat gefolgt, Eléonore, dich immer nach dem Warum der Dinge zu fragen?« »Ja, Madame, das tue ich die ganze Zeit, und so lerne ich viel.«) In einem dieser Augenblicke diktierte sie einen liebevollen Brief an ihre Tochter Aline, die, vom Ehepaar Lemonnier über ihre Krankheit inKenntnis gesetzt, ihr aus Amsterdam einige bewegte Zeilen geschrieben hatte. Außerdem bat Flora Eléonore um ausführliche Informationen über das Komitee der Arbeiterunion in Lyon, das, so beharrte sie, gegenüber allen bisher gegründeten Komitees führend sein solle.
»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie es übersteht?« fragte Charles Lemonnier Doktor Gintrac in Anwesenheit von Eléonore.
»Vor einigen Tagen hätte ich Ihnen gesagt, sehr gering«, murmelte der Arzt, während er sein Monokel putzte. »Jetzt bin ich optimistischer. Sagen wir, fünfzig Prozent. Was mir Sorgen macht, ist die Kugel in ihrer Brust. Aufgrund ihres Schwächezustands könnte es zu einer Verlagerung dieses Fremdkörpers kommen. Das hätte fatale Folgen.«
Nach zwei Wochen mußte Eléonore sehr zu ihrem Bedauern nach Lyon zurückkehren. Ihre Familie und ihre Arbeit riefen nach ihr, auch ihre Gefährten vom Komitee der Arbeiterunion, dessen treibende Kraft sie auf Anweisung von Flora war, wie sie, ohne zu prahlen, sagte. Sie bewahrte die Fassung, als sie sich von der Kranken verabschiedete, der sie versprach, sie in wenigen Wochen wieder zu besuchen. Doch kaum hatte sie das Zimmer verlassen, brach sie in heftiges Schluchzen aus, das Elise Lemonnier weder mit Worten noch mit zärtlichen Gesten zu besänftigen vermochte. »Ich weiß, daß ich Madame nicht wiedersehen werde«, sagte sie ein ums
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