Das Paradies ist anderswo
Einbruch der Dämmerung bis weit in den Abend hinein. Abgearbeitet, mit einfachen Arbeitsblusen aus grober Leinwand, geflickten Schuhen oder auch barfuß, hörten sie ihr interessiert zu und nickten oft still vor sich hin. Flora sah, wie diese müden Gesichter sich aufhellten, als sie sagte, daß die Arbeiterunion, wenn es sie erst einmal in ganz Frankreich und später in ganz Europa gäbe, so stark sein würde, daß Regierungen und Parlamente das Recht auf Arbeit zum Gesetz erheben müßten. Ein Gesetz, das sie für immer vor Arbeitslosigkeit schützen würde.
»Aber dieses Recht wollen Sie auch den Frauen geben«, warf ihr einer vor, als sie die Runde der Fragen eröffnete.
»Essen Frauen denn nicht? Kleiden sie sich denn nicht? Müssen sie nicht auch arbeiten, um zu leben?« antwortete Flora, jede Silbe betonend, als sagte sie ein Gedicht auf.
Es war nicht leicht, sie zu überzeugen. Sie fürchteten die Ausbreitung der Arbeitslosigkeit, wenn das Recht auf Arbeit auch die Frauen einschließen sollte, denn es würde niemals Arbeit für so viele Menschen geben. Sie konnte ihnen auch nicht plausibel machen, daß man in Fabriken und Werkstätten die Arbeit von Kindern unter zehn Jahren verbieten mußte, damit diese in die Schule gehen und lesen und schreiben lernen konnten. Sie erschraken, wurden wütend, meinten, daß unter dem Vorwand, den Kindern eineSchulbildung zu geben, das knappe Familieneinkommen geschmälert würde. Flora verstand die Ängste der Männer und zügelte ihre Ungeduld. Sie arbeiteten fünfzehn Stunden oder mehr von vierundzwanzig, sieben Tage die Woche, und sie wirkten unterernährt, übernächtigt, kränklich und früh gealtert durch dieses dumpfe Leben. Was konntest du mehr von ihnen verlangen, Florita? Sie verließ die Werkstatt mit der Gewißheit, daß dieses Gespräch seine Früchte tragen würde. Und sie erfüllte am nächsten Morgen trotz ihrer Erschöpfung ihre Pflichten als Touristin.
Die berühmte Schwarze Jungfrau von Dijon, Unsere Liebe Frau von der Guten Hoffnung, erschien ihr wie eine häßliche Kröte, ein Bildwerk, das nicht würdig war, diesen Ehrenplatz auf dem Hochaltar der Kathedrale einzunehmen. Das sagte sie zwei jungen Frauen der Bruderschaft der Jungfrau, die dabei waren, den Fetisch mit einer Tunika und Schleiern aus Seide, Gaze und Organdy und Armbändern und Diademen zu schmücken.
»Es ist Aberglaube, die Jungfrau in diesem Bildwerk anzubeten. Ihr erinnert mich an die Götzendiener, die ich in den Kirchen Perus gesehen habe. Erlauben das denn die Geistlichen? Wenn ich in Dijon leben würde, dann wäre in drei Monaten Schluß mit diesem heidnischen Obskurantismus.«
Die jungen Frauen bekreuzigten sich. Eine von ihnen stotterte, der Herzog von Burgund habe dieses Bildnis von seiner Pilgerreise durch den Orient mitgebracht. Seit Hunderten von Jahren erfreue sich die Schwarze Jungfrau größter Beliebtheit bei den Gläubigen der Region. Und wundertätig sei sie wie keine andere.
Flora mußte den Ort eilig verlassen – betrübt, gern hätte sie weiter mit den beiden kleinen Betschwestern debattiert –, um nicht zu spät zu ihrer Verabredung mit vier wichtigen Damen zu kommen, die Wohltätigkeitskollekten veranstalteten und sich als Schirmherrinnen von Asylen für Alte betätigten. Die Damen empfingen sie mißtrauisch.Sie musterten sie von Kopf bis Fuß, voll Neugier auf diese sonderbare Pariserin, die Bücher schrieb, diese weltliche Heilige, die ungeniert ihr Vorhaben verkündete, die Menschheit zu erlösen. Sie hatten für sie einen kleinen Tisch mit Tee, Erfrischungsgetränken und Backwerk gedeckt, von dem Flora nicht probierte.
»Ich bin gekommen, um Sie um Ihre Unterstützung für ein zutiefst christliches Unterfangen zu bitten, Mesdames.«
»Und was glauben Sie, was wir tun, Madame?« sagte die Älteste, eine energisch gestikulierende Greisin mit blauen Augen. »Wir widmen unser ganzes Leben der christlichen Nächstenliebe.«
»Nein, Sie praktizieren keine christliche Nächstenliebe«, widersprach ihr Flora. »Sie verteilen Almosen, was etwas ganz anderes ist.«
Sie nutzte ihre Verblüffung und versuchte, es ihnen begreiflich zu machen. Almosen waren nur gut für den, der sie verteilte, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen und sich gerecht zu fühlen. Aber die Gaben halfen den Armen nicht, die Armut zu überwinden. Statt für Almosen sollten sie ihr Geld und ihren Einfluß für die Arbeiterunion einsetzen, ihre Zeitung finanzieren, ihre Lokale
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