Das Paradies ist anderswo
ihnen gerade frisch angezogen hatte, weil sie auch die vorherigen vollgemacht und vollgespuckt hatten. Die Frau des Obersten warf sie an dem Tag hinaus, als sie entdeckte, wie Madame-la-Colère, vom Geschrei der Zwillinge entnervt, sie kniff und zwickte, damit sie endlich Ruhe gaben.
Obwohl Flora von jungen Jahren an mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versucht hatte, die Mängel ihrer Bildung zu beheben, bedrückte sie doch immer die Vorstellung, ungebildet, unwissend zu sein, wenn ihr ein Mensch begegnete, der so klug war und ein so gutes Französisch sprach wie der Bischof von Dijon. Dennoch verließ sie den Bischofspalast nicht niedergeschlagen. Eher angeregt. Nachdem sie ihm zugehört hatte, mußte sie daran denken, wie angenehm das Leben einmal sein würde, wenn dank der großen friedlichen Revolution, der sie den Weg bereitete, alle Kinder in den Arbeiterpalästen eine so sorgfältige Erziehung erhalten würden, wie Monseigneur François-Victor Rivet sie genossen haben mußte.
Nach einem Treffen mit einer Gruppe von Fourieristen begab Flora sich am Vorabend ihrer Abreise aus Dijon hinaus aufs Land, um Gabriel Gabety zu besuchen, einen alten Philanthropen. Er war aktiver Revolutionär – Jakobiner – während der großen Revolution gewesen und schrieb jetzt, reich und verwitwet, philosophische Bücher über Recht und Gerechtigkeit. Es hieß, er sympathisiere mit den Ideen von Charles Fourier. Doch Flora erlebte eine weitere große Enttäuschung. Monsieur Gabriel Gabety sagte ihr keinerlei Unterstützung für die Arbeiterunion zu, einen Plan, den der einstige Anhänger Robespierres als »Wahnidee« abtat. Und Flora mußte einen fast einstündigen Monolog des verfrorenen Greises über sich ergehen lassen – außer einem wollenen Hausmantel und Schal trug er auch noch eine Schlafmütze –, in dem er sich über seine Forschungen nach römischen Überresten in der Region ausließ. Denn nicht zufrieden mit Recht, Ethik, Philosophie und Politik, betätigte er sich in seinen freien Augenblickenauch noch als Amateurarchäologe. Während der Alte schwadronierte, verfolgte Flora das Hin und Her des kleinen Dienstmädchens von Monsieur Gabety. Jung, rege, lächelnd, ruhte sie nicht einen Augenblick, fuhr mit dem Schrubber über die rötlichen Fliesen des Korridors, entstaubte mit dem Federwisch das Geschirr im Eßzimmer oder brachte ihnen die Limonaden, die der Gelehrte in einer kurzen Unterbrechung seiner hochtrabenden Rede bei ihr orderte. Das warst auch du einst gewesen, Florita. Wie sie hattest du deine Tage und deine Nächte drei Jahre lang damit verbracht, zu schrubben, zu putzen, zu fegen, zu waschen, zu bügeln und zu bedienen. Bis du eine bessere Stelle bekamst. Kammermädchen, Hausmädchen, Dienstmädchen bei jener Familie, die schuld war an deinem unermeßlichen Haß auf England, den du dir bei ihnen holtest, wie man sich Gelbfieber oder Cholera holt. Und doch hättest du ohne diese Jahre im Dienst der Familie Spence jetzt nicht diesen klaren Blick für das, was getan werden mußte, um diesem Tränental Würde und Menschlichkeit zu verleihen.
Als Flora nach diesem nutzlosen Besuch im Landhaus von Gabriel Gabety in ihre Herberge zurückkehrte, erwartete sie eine angenehme Überraschung. Eines der Zimmermädchen klopfte an ihre Tür, jung und schüchtern. Sie trug einen Franc in der Hand und stotterte:
»Reicht das, Madame, um Ihr Buch zu kaufen?«
Man habe ihr von L’Union Ouvrière erzählt und sie habe Lust, es zu lesen. Denn sie könne lesen und tue dies gern in ihrer Freizeit.
Flora umarmte sie, widmete ihr ein Exemplar und nahm ihr Geld nicht an.
IV
Geheimnisvolle Wasser
Mataiea, Februar 1893
In den elf Monaten, die vergingen, bis er seine Entscheidung, nach Frankreich zurückzukehren, verwirklichen konnte – von jener tamara’a , bei der er es mit Maoriana, der Frau von Tutsitil, getrieben hatte, bis zu dem Tag, da die französische Regierung sich dank der Bemühungen von Monfreid und Schuffenecker in Paris bereit fand, ihn zu repatriieren, und er sich am 4. Juni 1893 auf der Du-chaffault einschiffen konnte –, malte Koke viele Bilder und machte zahllose Skizzen sowie Skulpturen, ohne jedoch jemals die Gewißheit des Meisterwerks zu haben, wie es ihm beim Malen von Manao tupapau widerfahren war. Sein Fiasko mit dem Porträt des toten Kindes des Ehepaars Suhas (mit dem Jénot ihn nach einer gewissen Zeit wieder versöhnen konnte) hatte ihn davon abgebracht, sich seinen
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