Das Paradies ist anderswo
sich von den Kindern versklaven lassen, als genügte es nicht, Sklavin des Mannes zu sein?
Die Wohnung in der Rue des Fossés-Saint-Germain-des-Prés war klein, wenn auch sauberer und weniger stickig als die in der Rue du Fouarre. Doch sie haßte sie noch mehr als die andere, weil sie sich als Gefangene fühlte, als ein Wesen, dem man das geraubt hatte, was Flora fortan mehr als alles andere in der Welt schätzenlernen sollte: die Freiheit. Die vier Jahre ehelicher Sklaverei öffneten dir die Augen für das, was richtig und falsch war in der Beziehung zwischen Männern und Frauen, für das, was du im Leben wolltest und was du nicht wolltest. Das, was du warst, ein Leib, um Monsieur André Chazal Lust und Kinder zu schenken, wolltest du natürlich nicht sein.
Nach der Geburt ihres ersten Kindes – Alexandre, im Jahr 1822 – begann sie, Vorwände zu ersinnen, um sich den Armen ihres Mannes zu entziehen: Halsentzündungen, Fieber, Kopfschmerzen, Erbrechen, Unwohlsein, narkoseähnlicher Schlaf. Und wenn das nicht genügte, dann weigerte sie sich, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen, auch wenn ihr Herr und Gebieter Wutanfälle bekam und sie beschimpfte. Als er zum ersten Mal versuchte, die Hand gegen dich zu erheben, sprangst du aus dem Bett und packtest die auf der Kommode liegende Schere:
»Wenn du mich schlägst, bringe ich dich um. Jetzt, morgen, übermorgen. Ich werde warten, bist du einschläfst, bis du abgelenkt bist. Und dich umbringen. Weder du noch sonst jemand wird sich an mir vergreifen. Niemals!«
André Chazal sah sie so wild entschlossen, so außer sich, daß er erschrak. Nun ja, Flora, am Ende hast du ihn nicht umgebracht. Eher hätte der arme Tropf beinahe dich umgebracht.Und nachdem er weiter mit dir kopuliert und dich geschwängert hatte und du einen zweiten Sohn geboren hattest (Ernest-Camille, im Juni 1824), schwängerte er dich noch ein drittes Mal. Doch als Aline zur Welt kam, hattest du deine Ketten schon gesprengt.
Die Saintsimonisten in Dijon hörten ihr aufmerksam zu. Danach stellten sie ihr Fragen, und einer von ihnen wies darauf hin, daß ihre Idee der Arbeiterpaläste viel dem von den Schülern Saint-Simons erdachten Gesellschaftsmodell verdanke. Er hatte nicht unrecht, Florita. Du warst eine fleißige Schülerin seiner Lehren gewesen, und eine Zeitlang hatte Saint-Simons fixe Idee mit dem Wasser – der zufolge die menschlichen Ströme, Wissen, Geld, Ansehen und Macht, im Hinblick auf den Fortschritt wie Flüsse und Wasserfälle frei zirkulieren mußten – dich ebenso fasziniert wie seine Persönlichkeit. Und die großen Gesten seiner Lebensgeschichte. Zum Beispiel, daß er auf seinen Grafentitel verzichtet hatte, von dem er sagte: »Ich betrachte ihn als einen Titel, der dem des Staatsbürgers weit unterlegen ist.« Doch die Saintsimonisten waren auf halbem Wege stehengeblieben, denn sie verteidigten zwar die Frau, ließen jedoch dem Arbeiter keine Gerechtigkeit widerfahren. Aber sie waren wohlerzogene, sympathische Menschen. Alle Anwesenden versprachen ihr, der Arbeiterunion beizutreten und ihr Buch zu lesen, obwohl offensichtlich war, daß du sie nicht überzeugt hattest. Die Idee, daß die Emanzipation der Frau und die Gerechtigkeit nur durch den Zusammenschluß aller Arbeiter möglich sein würden, machte sie skeptisch. Sie glaubten nicht an eine Reform von unten, im Verein mit dem Pöbel. Sie betrachteten die Arbeiter von weit oben herab, mit dem instinktiven Mißtrauen der Besitzenden, Beamten und Rentiers. Sie waren so naiv zu glauben, daß eine Handvoll Bankiers und Industrielle und ein von ihnen mit wissenschaftlichen Kriterien ausgearbeiteter Staatshaushalt sämtliche Übel der Gesellschaft beheben würden. Aber zumindest nahm die Befreiung der Frau von sämtlichen Zwängen und damit dieWiedereinführung der Scheidung einen wichtigen Platz in ihrer Lehre ein. Allein schon deshalb war sie ihnen dankbar.
Interessanter als das Treffen mit den Saintsimonisten waren die Begegnungen mit den Tischlern, Schuhmachern und Webern in Dijon. Sie traf sich gesondert mit ihnen, denn die mutualistischen Vereine der Compagnonnage waren sehr auf ihre Selbständigkeit bedacht und mischten sich nicht gern mit Arbeitern anderer Branchen, ein Vorurteil, das Florita ihnen ohne viel Erfolg auszureden suchte. Die beste Versammlung war die mit den Webern, einem Dutzend Männer, die sich in einer Werkstatt außerhalb der Stadt zusammendrängten und mit denen sie mehrere Stunden verbrachte, von
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