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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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nicht helfen. Mehr noch. Es sei seine Pflicht, sie zu warnen. Sollte es zur Gründung der Arbeiterunion kommen, was bei Floras Tat- und Willenskraft durchaus im Bereich des Möglichen liege, würde er sie bekämpfen. Eine nichtkatholische Organisation dieser Größenordnung könne eine Katastrophe für die Gesellschaft bedeuten. Sie debattierten lange. Flora gewann rasch dieÜberzeugung, daß ihre Argumente bei Monseigneur François-Victor Rivet niemals auf fruchtbaren Boden fallen würden. Aber sie war entzückt über den Feinsinn des Bischofs, der sich auch geschmackvoll und kenntnisreich über Kunst, Literatur, Musik und Geschichte zu äußern wußte. Wenn sie jemandem wie ihm zuhörte, konnte sie ein Gefühl von Wehmut nicht unterdrücken; es gab so viel, was sie nicht wußte, so viel, was sie nicht gelesen hatte und nicht mehr lesen würde, denn es war zu spät, die Lücken ihrer Bildung zu füllen. Deshalb verachtete George Sand dich, Florita, und deshalb fühltest du vor dieser großen Dame der französischen Literatur immer eine lähmende Unterlegenheit. »Du bist mehr wert als sie, dummes Ding«, munterte Olympe sie auf.
    Nicht nur arm, sondern auch noch ungebildet sein hieß zweifach arm sein, Florita. Das sagte sie sich oft in jenem Jahr der Befreiung vom Joch André Chazals – 1825 –, als sie, während ihr ältester Sohn krank war, der jüngere bei der Amme auf dem Land und Aline gerade geboren, einer Situation gegenüberstand, die sie in ihrer Obsession, sich aus dem Gefängnis der Familie zu befreien, nicht vorausgesehen hatte. Diese Kinder mußten ernährt werden. Wie, wenn du nicht einen Centime besaßest? Sie ging zu ihrer Mutter, die zu jener Zeit in einer weniger schäbigen Gegend wohnte, in der Rue Neuve-de-Seine. Madame Tristan konnte nicht verstehen, daß du nicht nach Hause zurückkehren wolltest, zu deinem Ehemann, dem Vater deiner Kinder. Flora! Flora! Was war das für eine Narrheit? André Chazal verlassen? Mit Recht beklage sich der arme Mann, daß er keine Nachricht von ihr habe. Er glaubte, seine Frau sei auf dem Land und kümmere sich um ihre Kinder. In den letzten Wochen war André unversehens in finanzielle Schwierigkeiten geraten: die Gläubiger belagerten ihn, er hatte die Wohnung in der Rue des Fossés-Saint-Germain-des-Prés aufgeben müssen, und seine Werkstatt war vom Richter beschlagnahmt worden. Und gerade jetzt, wo dein Ehemann dich mehr denn je brauchte, wolltest duihn verlassen? Ihre Mutter hatte die Augen voller Tränen, und ihr Mund zitterte.
    »Ich habe es schon getan«, sagte Flora. »Ich werde nie zu ihm zurückkehren. Ich werde meine Freiheit nie wieder aufgeben.«
    »Eine Frau, die Heim und Herd verläßt, fällt tiefer als eine Prostituierte«, tadelte ihre Mutter sie voll Entsetzen. »Das wird vom Gesetz bestraft, das ist ein Vergehen. Wenn André Chazal dich anzeigt, wird die Polizei dich suchen, du wirst ins Gefängnis kommen wie eine Verbrecherin. So etwas Wahnsinniges kannst du doch nicht tun!«
    Du hattest es getan, Florita, ohne dich um die Risiken zu bekümmern. Ja, die Welt war feindselig geworden, das Leben ungemein schwer. Zunächst einmal mußte die Amme in Arpajon dazu gebracht werden, alle drei Kinder bei sich zu behalten, während du eine Arbeit suchtest, um ihre Dienste und den Unterhalt deiner Kinder zu bezahlen. Und als was konntest du arbeiten mit deiner Unfähigkeit, auch nur einen Satz korrekt zu schreiben?
    Um zu verhindern, daß André Chazal sie finden konnte, mied sie die Kupferstichwerkstätten, wo man sie womöglich angestellt hätte. Und sie verließ Paris und versteckte sich in der Provinz. Sie mußte ganz von unten anfangen. Als Verkäuferin von Nähnadeln, Garnrollen und Stickvorlagen in einem kleinen Geschäft in Rouen, das sie überdies außerhalb der Öffnungszeiten für einen unwürdigen Lohn, den sie in voller Höhe der Amme in Arpajon zukommen ließ, fegen, wischen und entstauben mußte. Dann als Kindermädchen der Zwillingssöhne der Frau eines Obersten, die auf dem Land lebte, in der Nähe von Versailles, während ihr Mann Krieg führte oder eine Kaserne kommandierte. Es war keine schlecht bezahlte Arbeit – sie gab nichts aus und hatte ein anständiges Zimmer –, und sie wäre länger dort geblieben, wenn ihr Charakter ihr erlaubt hätte, die Zwillinge zu ertragen, zwei dicke Schreihälse, die, wenn sie ihr nicht mit ihrem Gebrüll das Trommelfell zerrissen, sich auf die Kleider erbrachen und in die Hosenmachten, die sie

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