Das Paradies ist anderswo
schenkte dir für kurze Augenblicke Ruhe. Aber bald konnte nicht einmal mehr der Alkohol die Folter besänftigen, die dich den Arzt anflehen ließ – er kam einmal pro Woche –: »Nehmen Sie mir das Bein ab, Doktor!« Ihm war alles recht, wenn es nur dieser Höllenqual ein Ende machte. Der Arzt beschloß, dir Laudanum zu verschreiben. Das Opium machte dich schläfrig; in diesem Zustand vager Betäubung, in diesen Momenten des Friedens, wenn du in einem trägen Strudel versankst, konntest du deinen Knöchel und Pont-Aven, den Vorfall in Concarneau und alles andere vergessen. Nur ein obsessiver Gedanke blieb im Kopf: ›Das ist eine Warnung. Geh sobald wie möglich fort. Kehr nach Polynesien zurück und komm nie wieder nach Europa, Koke.‹
Nach einer unermeßlichen Zeit, nach einer Nacht, in der er endlich ohne Alpträume geschlafen hatte, wachte er eines Morgens mit klarem Kopf auf. Der Ire O’Conor hielt Wache an seinem Bett. Was war mit Annah? Er hatte das Gefühl, sie seit vielen Tagen nicht gesehen zu haben.
»Sie ist nach Paris gereist«, sagte der Ire. »Sie war sehr traurig. Sie konnte nicht hierbleiben, nachdem die Nachbarn Taoa vergiftet hatten.«
Zumindest vermutete das die Javanerin. Daß die Bewohner von Pont-Aven, die Taoa ebenso haßten wie ihre Herrin, dem Äffchen die mit Bananen vermengte Mixtur zubereitet hatten, die ihm auf den Magen schlug und es tötete. Statt das Tier zu begraben, entnahm Annah ihm eigenhändig und unter Schluchzern die Eingeweide und nahm die Überreste mit nach Paris. Paul mußte an Titi denken, als sie, der Langeweile in Mataiea überdrüssig, ihn verließ, um zu den bewegten Nächten in Papeete zurückzukehren. Würdest du die freche Javanerin wiedersehen? Sicher nicht.
Als er aufstehen konnte – er hinkte tatsächlich, und der Stock war ihm unentbehrlich –, mußte er vor seiner Rückkehr nach Paris noch einige polizeiliche Formalitäten wegen der Prügelei in Concarneau über sich ergehen lassen. Er machte sich keine Illusionen über die Richter, die Landsleute der Angreifer waren und wahrscheinlich ebenso feindselig wie sie gegenüber den Bohemiens, die ihre Ruhe gestört hatten. Die Richter sprachen natürlich sämtliche Fischer frei, mit einem Urteil, das ein Hohn für den gesunden Menschenverstand war, und billigten ihm als Entschädigung eine symbolische Summe zu, die nicht einmal ein Zehntel seiner Ausgaben für die Behandlung deckte. Fortgehen, so bald wie möglich fortgehen. Aus der Bretagne, aus Frankreich, aus Europa. Diese Welt war dein Feind geworden. Wenn du dich nicht beeiltest, würde sie dir den Garaus machen, Koke.
In der letzten Woche in Pont-Aven, als er wieder das Gehen lernte – er hatte zwölf Kilo verloren –, besuchte ihn aus Paris ein junger Dichter und Schriftsteller, Alfred Jarry. Er nannte ihn »Maestro« und brachte ihn mit seinen intelligenten Absurditäten zum Lachen. Er hatte seine Bilder bei Durand-Ruel und bei Sammlern gesehen und in seiner überschwenglichen Bewunderung mehrere Gedichte übersie geschrieben, die er ihm vorlas. Und er lauschte andächtig und hingebungsvoll Pauls Schimpftiraden gegen die französische und europäische Kunst. Ihn und die anderen Jünger in Pont-Aven, die ihn am Bahnhof verabschiedeten, lud er ein, ihm nach Ozeanien zu folgen. Sie würden gemeinsam dieses Atelier der Tropen begründen, von dem der verrückte Holländer in Arles geträumt hatte. Sie würden im Freien arbeiten, wie Heiden leben und die Kunst revolutionieren, indem sie ihr die Kraft und Kühnheit zurückgaben, die sie verloren hatte. Alle schworen, ihm zu folgen. Sie würden ihn begleiten, mit ihm nach Tahiti gehen. Doch im Zug nach Paris ahnte er, daß auch sie sich nicht an ihr Wort halten würden, wie zuvor schon seine alten Gefährten Charles Laval und Emile Bernard. Auch diese sympathische Gruppe von Pont-Aven würdest du nicht wiedersehen, Paul.
In Paris kam er vom Regen in die Traufe. Unglaublich, daß die Dinge sich nach diesen Monaten der Bettlägerigkeit in der Bretagne noch verschlimmern konnten. Unter den Künstlern herrschten Mißtrauen und Ungewißheit infolge der abscheulichen politischen Situation. Seit der Ermordung des Präsidenten Sadi Carnot durch einen Anarchisten hatte das Klima der Unterdrückung, der Denunziationen und Verfolgungen viele seiner Bekannten und Freunde (oder ehemaligen Freunde), die mit den Anarchisten sympathisierten, wie Camille Pissarro, oder Regierungsgegner wie Octave Mirbeau ins Exil
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