Das Paradies ist anderswo
die, so erzählte er, sich dank »Don Valentin« – der Peitsche, die er eingerollt am Gürtel trug – »anständig verhielten«. Am Ende, als er betrunken war, gestand er ihnen, er habe aus Furcht, seine Diener könnten ihn vergiften, eine seiner Negerinnen geheiratet und ihr drei Kinder gemacht, »schwarz wie Kohle«. Er lasse seine Frau sämtliche Speisen und Getränke kosten, für den Fall, daß die Sklaven versuchten, ihn zu vergiften.
Eine weitere Gestalt, die Flora im Gedächtnis bleiben sollte, war der zahnlose Kapitän Brandisco, ein Venezianer, dessen Schoner in der Bucht von Praia neben der Méxicain ankerte. Er lud sie alle zum Abendessen auf sein Schiff ein, wo er sie in einem operettenhaften Aufzug empfing: Hut mit Pfauenfedern, Musketierstiefel, enge rote Samthose und schillerndes, mit funkelnden Schmucksteinen besetztes Hemd. Er zeigte ihnen eine Truhe mit Glasperlenketten, die er, wie er sich brüstete, in den afrikanischen Dörfern für Neger eintauschte. Sein Haß auf den Engländer war noch größer als der des ehemaligen Seminaristen Tappe. Die Engländer hatten den Venezianer auf hoher See mit einem Schiff voller Sklaven abgefangen, das Schiff mitsamt Sklaven und allem, was sich an Bord befand, beschlagnahmt und ihn zwei Jahre lang in ein Gefängnis gesperrt, wo er sich einen Eiterfluß zuzog, der ihn um sämtliche Zähne brachte. Beim Nachtisch versuchte Brandisco, Flora einen kleinen, sehr aufgeweckten fünfzehnjährigen Neger »als Pagen« zu verkaufen. Um sie davon zu überzeugen, wie gesund der Junge war, befahl er ihm, den Lendenschurz abzulegen, und dieser zeigte ihnen sogleich lächelnd seine Schamteile.
Nur dreimal verließ Flora die Méxicain , um Praia zu besuchen, und jedesmal sah sie, wie Soldaten der kolonialen Garnison auf dem glühendheißen Platz Sklaven im Auftrag ihrer Besitzer auspeitschten. Das Schauspiel machte sie so traurig und wütend, daß sie beschloß, sich ihm nicht mehr auszusetzen. Und sie verkündete Chabrié, sie werde bis zum Tag der Abreise auf dem Schiff bleiben.
Es war die erste große Lektion dieser Reise, Florita. Die Schrecken der Sklaverei, der größten Ungerechtigkeit in dieser Welt der Ungerechtigkeiten, die man ändern mußte, um sie menschlich zu machen. Und doch, in deinem Buch über diese Reise nach Peru, Fahrten einer Paria , in dem Bericht über deinen Aufenthalt in Praia, schriebst du diese Sätze über »den Negergeruch, den man mit nichts vergleichen kann, der Übelkeit erregt und dem man nirgendwoentgeht«, die du später bitter bereuen solltest. Negergeruch! Wie sehr hattest du diese gedankenlose Dummheit, dieses Klischee der Pariser Snobs bedauert. Nicht der »Negergeruch« war abstoßend auf dieser Insel, sondern der Geruch nach Elend und Grausamkeit, nach dem Schicksal dieser Afrikaner, aus denen die europäischen Händler eine Ware gemacht hatten. Trotz allem, was du in Sachen Ungerechtigkeit gelernt hattest, warst du noch immer eine Ignorantin, als du die Fahrten einer Paria schriebst.
Der letzte Tag in Lyon war der geschäftigste der vier. Sie erhob sich mit heftigen Koliken, doch als Eléonore ihr riet, im Bett zu bleiben, antwortete sie: »Jemand wie ich darf nicht krank werden.« Sie schleppte sich zu der Versammlung, die das Komitee der Arbeiterunion für sie in einer Werkstatt mit etwa dreißig Schneidern und Zuschneidern organisiert hatte. Es waren alles ikarische Kommunisten, deren Bibel (obwohl viele von ihnen sie nur vom Hörensagen kannten, weil sie nicht lesen konnten) das letzte Buch von Etienne Cabet war, das er 1840 veröffentlicht hatte: Die Reise nach Ikarien . Unter dem Vorwand, die angeblichen Abenteuer eines englischen Aristokraten, Lord Carisdall, in einem märchenhaften egalitären Land ohne Nachtlokale, Cafés, Prostituierte noch Bettler – aber mit Toiletten auf der Straße! – zu erzählen, veranschaulichte der ehemalige Angehörige des Karbonaribundes darin seine Theorien über die künftige kommunistische Gesellschaft, in der mittels progressiver Besteuerung des Einkommens und des Erbes ökonomische Gleichheit enstehen würde, so daß Geld und Handel abgeschafft und das Kollektiveigentum eingeführt werden könnten. Schneider und Zuschneider waren bereit, nach Afrika oder Amerika zu reisen, wie Robert Owen es getan hatte, um dort die vollkommene Gesellschaft Etienne Cabets zu begründen, und zahlten Beiträge für den Erwerb von Grund und Boden in der neuen Welt. Sie zeigten sich kaum begeistert über
Weitere Kostenlose Bücher