Das Paradies ist anderswo
Sexuelle dir einflößte, konntest du es nicht lassen, mit dem Seemann zu kokettieren, amüsiert über die Gefühle, die er erkennen ließ, wenn er dich laut lachen sah oder du mit einer brillanten Bemerkung kontertest, blinzelnd, mit übertrieben flatternden Händen, oder ein Bein unter dem Rock vorgestreckt, bis dein schmaler Knöchel zu sehen war. Chabrié wurde rot, glücklich, und zuweilen, um dich zu unterhalten, gab er mit mächtiger, wohlklingender Stimme eine Romanze, eine Arie von Rossini oder einen Wiener Walzer zum besten. Doch an jenem Nachmittag, ermuntert vielleicht von der prachtvollen Dämmerung oder weil du dich mit deinen geistreichen Einfällen selbst übertroffen hattest, konnte der ritterliche Bretone sich nicht beherrschen, ergriff mit Zartgefühl deine Hand, führte sie an die Lippen und murmelte:
»Verzeihen Sie meine Kühnheit, Mademoiselle. Aber ich halte es nicht mehr aus, ich muß es Ihnen sagen: Ich liebe Sie.«
Die dann folgende, mit zitternder Stimme vorgetragene Liebeserklärung ließ Aufrichtigkeit und Anstand, Höflichkeit, gute Kinderstube erkennen. Du hörtest ihm verwirrt zu. Solche Männer gab es also? Korrekt, sensibel, zartfühlend, überzeugt, daß die Frau wie ein Blütenblatt, wie in den romantischen Romanen, behandelt werden mußte. Der Seemann bebte; er war so beschämt über seine Kühnheit, daß du, freilich ohne seine Liebe formell anzunehmen, ihm voll Mitleid Hoffnungen machtest. Ein schwerer Irrtum, Florita. Du warst beeindruckt von seiner Redlichkeit, von der Lauterkeit seiner Absichten und sagtest ihm, du würdest ihn immer wie deinen besten Freund lieben. In einer Anwandlung, die dich später in Schwierigkeitenbringen sollte, nahmst du das gerötete Gesicht Chabriés in deine Hände und küßtest ihn auf die Stirn. Der Kapitän bekreuzigte sich und dankte Gott dafür, daß er ihn in diesem Augenblick zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht habe.
Hattest du in diesen elf Jahren bereut, Florita, daß du auf jener Reise mit den Gefühlen des guten Zacharie Chabrié gespielt hattest? Die Frage ging ihr im Kopf herum, während sich das kleine Schiff auf der Rhone Avignon näherte. Wie andere Male antwortete sie sich: ›Nein.‹ Du bereutest sie nicht, diese Spiele, Koketterien und Lügen, die Chabrié während der Überfahrt nach Valparaíso schmoren und glauben ließen, er mache Fortschritte und Mademoiselle Flora Tristan werde ihm jeden Augenblick ihr endgültiges Jawort geben. Du hattest ohne den geringsten Skrupel mit ihm gespielt, ihn mit deinen ambivalenten Antworten, mit deiner wohleinstudierten Selbstvergessenheit ermuntert und ihm bisweilen erlaubt, wenn er dich bei ruhiger See in deiner Kabine besuchte, daß er dir die Hände küßte, oder in einer plötzlichen Gefühlsregung zugelassen – damit er fortfuhr, dir sein Leben zu erzählen, seine Reisen, seine Hoffnungen als junger Mann in Lorient, Opernsänger zu werden, die Enttäuschung mit der einzigen Frau, die er geliebt hatte, bevor er dich kennenlernte –, daß er seinen Kopf auf deine Knie bettete, während du ihm über das spärliche Haar strichst. Einmal hattest du es sogar geschehen lassen, daß Chabriés Lippen die deinen streiften. Du bereutest es nicht? ›Nein.‹
Der Bretone glaubte fest, daß Flora eine ledige Mutter sei, als sie ihm schließlich eine Erklärung über die Lüge gab, um die sie ihn am Tag der Einschiffung in Bordeaux gebeten hatte. Sie hatte gedacht, der gläubige Katholik würde empört reagieren, wenn er erführe, daß sie ein uneheliches Kind hatte. Doch das Gegenteil war der Fall; ihr »Mißgeschick« zu kennen ermunterte Chabrié, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Er würde das Mädchen adoptieren, und sie könnten weit fort von Frankreich gehen,irgendwohin, wo niemand Flora an die Niederträchtigkeit des Mannes erinnern konnte, der ihre Jugend befleckt hatte: Lima, Kalifornien, Mexiko, selbst nach Indien, wenn sie wollte. Obwohl du nie Liebe für ihn empfinden konntest, lockte dich die Vorstellung, sein Angebot anzunehmen, mehr als einmal, nicht wahr, Florita? Sie würden heiraten, sich an einem fernen, exotischen Ort niederlassen, wo niemand dich kannte und dich der Bigamie beschuldigen konnte. Dort würdest du ein ruhiges, bürgerliches Leben ohne Angst und Hunger führen, beschützt von einem Kavalier ohne Fehl und Tadel. Hättest du das ertragen, Andalusierin? Natürlich nicht.
Der Anlegeplatz in Avignon war schon in Sicht. Es war besser, in die Gegenwart
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