Das Paradies ist anderswo
den Plan der universellen Arbeiterunion, die ihnen als wenig anziehende Alternative erschien im Vergleich zu ihremikarischen Paradies, in dem es keine Armen, keine sozialen Klassen, keine Müßiggänger, keine Dienstboten, kein Privateigentum gab, in dem alle Güter in Gemeinbesitz waren und der Staat, »der Souverän Ikar«, sämtliche Bürger ernährte, kleidete, ausbildete und unterhielt. Zum Abschied wurde Flora spitz: Es sei egoistisch, sich in ein abgeschiedenes Eden flüchten zu wollen und dem Rest der Welt den Rücken zu kehren, und sehr naiv, wortwörtlich zu glauben, was in der Reise nach Ikarien stand, einem Buch, das weder wissenschaftlich noch philosophisch sei, sondern nur eine literarische Phantasie! Wer, mit auch nur einem bißchen Verstand im Kopf, würde einen Roman mit einem theoretischen Werk und einem Leitfaden für die Revolution verwechseln? Und was war das für eine Revolution, die der Herr Cabet im Sinn hatte, wenn er die Familie für geheiligt hielt und die Institution der Ehe bewahrte, die ein verschleierter Verkauf der Frauen an ihre Ehemänner war?
Der schlechte Eindruck, den die Schneider auf sie gemacht hatten, wurde durch das Abschiedsessen wettgemacht, zu dem sie das Komitee der Arbeiterunion in ein Versammlungslokal der Weber einlud. Mehr als dreihundert Arbeiter und Arbeiterinnen füllten den großen Saal, brachten ihr im Lauf des Abends mehrfach Ovationen dar und stimmten die »Marseillaise des Arbeiters« an, die ein Schuster komponiert hatte. Die Redner erklärten, die Verleumdungen von Le Censeur hätten der Person und dem Werk Flora Tristans mehr Ansehen verliehen und den Neid verdeutlicht, den sie bei den Erfolglosen wecke. Sie war so bewegt von dieser Huldigung, daß sie sagte, es lohne sich, von den Rittiez dieser Welt beleidigt zu werden, wenn man dafür mit einem solchen Abend beschenkt werde. Dieser überfüllte Saal beweise, daß die Arbeiterunion nicht aufzuhalten sei.
Eléonore und die anderen Mitglieder des Komitees verabschiedeten sie um drei Uhr in der Frühe am Anlegeplatz. Die zwölf Stunden auf dem Schiff, der Anblick der Bergean den Ufern der Rhone, über deren von Zypressen bewachsenen Gipfeln sie die Morgendämmerung heraufziehen sah, während sie sich Avignon näherten, ließen sie abermals an ihre Überfahrt von den Kapverden zu den Küsten Südamerikas denken. Vier Monate, ohne festen Boden zu betreten, mit nichts vor Augen als dem Meer, dem Himmel und ihren neunzehn Gefährten, in diesem schwimmenden Gefängnis, in dem sie jeden Tag, den der liebe Gott werden ließ, vor Übelkeit verging. Am schlimmsten war die Überquerung des Äquators bei sintflutartigem Regen und Sturm, der das Schiff erschütterte, es krachen und knarren ließ, als wollte es auseinanderbrechen, und Seeleute und Passagiere zwang, sich an den Eisenstangen und Ringen des Decks festzubinden, um nicht von den Wellen fortgespült zu werden.
Hatten die neunzehn Männer auf dem Schiff sich in dich verliebt, Florita? Wahrscheinlich. Sicher war, daß alle sie begehrten und daß der Umstand, in diesem erzwungenen Eingesperrtsein einer jungen Frau mit großen schwarzen Augen, langem andalusischem Haar, Wespentaille und anmutigen Bewegungen so nahe zu sein, ihnen Ruhe und Verstand raubte. Du warst sicher, daß nicht nur der kleine Schiffsjunge, sondern auch einige Seeleute sich heimlich, mit deinem Bild vor Augen, in der schmutzigen Weise Befriedigung verschafften, wie du es in Bordeaux bei Ismaelillo, dem Göttlichen Eunuchen, erlebt hattest. Ja, alle begehrten sie dich, denn die Enge und die Entbehrungen verstärkten deine Reize, wenn auch niemand es dir gegenüber jemals an Respekt fehlen ließ und nur Kapitän Zacharie Chabrié dir ausdrücklich seine Liebe offenbarte.
Es geschah in Praia, an einem dieser Nachmittage, an denen alle an Land gegangen waren, außer Flora, die das Auspeitschen der Sklaven nicht sehen wollte. Chabrié blieb zurück, um ihr Gesellschaft zu leisten. Es war angenehm, mit dem höflichen Bretonen auf dem Vorderschiff zu plaudern und zuzusehen, wie die Sonne fern am Horizont in einem Fest aus Farben unterging. Die glühende Hitze ließ nach,es wehte eine laue Brise, und der Himmel phosphoreszierte. Der etwas dickleibige, sorgfältig gekleidete verhinderte Tenor, der die Vierzig noch nicht erreicht hatte, besaß so gute Manieren, eine so tadellose Höflichkeit, daß sein Aussehen dadurch gewann, ja bisweilen sogar stattlich zu nennen war. Trotz des Abscheus, den das
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