Das Paradies ist weiblich
wir uns niedergelassen haben, ist
ziemlich dunkel. Beim Deckenlicht ist ganz schön herumgestümpert worden: Man erkennt gerade die Umrisse der Personen, die
sich in der Nähe des Feuers aufhalten.
Tsunami Ana trägt einen dunklen Rock und einen passenden Kasack. Sie legt die Beine übereinander und zündet sich eine Zigarette
an. Sie sieht aus wie ein Pirat, der von der Zeit überrascht wurde und seine eigene Geschichte überlebt hat.
Sie beugt den Kopf nach vorn und bläst Rauch aus, dann legt sie ihren Zopf über die Schulter. Ich bin sicher, sie hat diese
Geste schon tausendmal mit Erfolg bei Männern angewandt. Sie mustert mich von oben bis unten und zieht noch einmal wortlos
an ihrer Zigarette. Ich spüre die Provokation, die in diesem Schweigen liegt, ich glaube, sie will mir sagen: »Ich bin gespannt,
Botschafter des Patriarchats, der du als Gast in meinem Reich bist, worüber du mit mir diskutieren möchtest.«
Und als wäre das noch nicht genug der Herausforderung, schenkt sie mir noch ein liebevoll-spöttisches Lächeln.
Ich nehme die Herausforderung an.
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Was mich immer brennender interessierte, je länger ich mich unter den Mosuo aufhielt, war die Frage, wie das Familienleben
ohne einen Vater funktioniert und ob die Vaterschaft tatsächlich keine Rolle für die Beteiligten spielt.
Das Matriarchat der Mosuo gilt als eines der reinsten, weil die Figur des Vaters nahezu unbedeutend, er häufig sogar unbekannt
ist. Wenn eine Frau merkt, dass sie schwanger ist, bereitet ihr die Frage, wer der Kindsvater sein könnte, wohl die geringste
Sorge; sie bemüht sich nicht einmal, es herauszufinden.
Was stellt ein Vater in meiner Vorstellung dar?
Jemanden, der seine Kinder ernährt, großzieht und liebt. Jemanden, der in der Familie für Ordnung sorgt; mir wird bewusst,
dass ich einen Vater unweigerlich mit einer Respektsperson assoziiere. Ein Vater kann einem Angst einjagen, aber er bietet
auch Schutz und Anerkennung. Er kann Vorbildfunktion haben und Vertrauter sein; manchmal ist er eine Schreckensgestalt, jähzornig,
unberechenbar |74| und gewalttätig. Ein Vater kann der große Abwesende sein und damit deutlich machen, wie wichtig seine Anwesenheit ist, aber
wenn er allgegenwärtig ist, löst es mitunter ein Gefühl von Beklemmung und Verfolgung in der Familie aus. Ein Vater kann seine
Kinder beschämen oder sie mit Stolz erfüllen – kurzum: Ein Vater kann vieles sein, in jedem Fall spielt er nach meinem Verständnis
eine zentrale Rolle im Leben seiner Kinder, er ist eine Figur, der man nacheifern oder von der man sich bewusst distanzieren
möchte. Ein Referenzpunkt.
Nicht so bei den Mosuo. In diesem Volk kennt man lediglich die Mutterwaise. Hier ist man dazu angehalten, den Ödipuskomplex
zu überdenken. In dieser Gemeinschaft haben Söhne keinen Vater, mit dem sie um die Mutter konkurrieren müssten. Der nächste
männliche Verwandte, der Onkel, steht in der Hierarchie weiter unten, und auch wenn er einen väterlichen Part übernimmt, gibt
es gravierende Unterschiede: Der Vater taucht auf der Bühne auf, weil er zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer Frau ausgewählt
wurde. Beim Onkel ist das anders, er ist Teil der Familie, ihn wählt man nicht aus. Und der Onkel hat auch nichts mit der
Sexualität der Mutter zu tun.
Die Existenz von Vätern setzt voraus, dass es Mütter gibt, die sie dazu ermächtigen (auch wenn |75| sie es möglicherweise später bereuen). Die Mosuo-Frauen tun genau das nicht, und doch leben sie in einer Familie.
Wie aber soll man unter den gegebenen Umständen sichergehen können, das Inzestverbot nicht zu übertreten? Das Gesetz untersagt
jedwede sexuelle Beziehung zwischen Mutter und Sohn, zwischen Geschwistern und Verwandten der Mutter. Wenn der Vater nicht
bekannt ist, besteht theoretisch die Möglichkeit, dass er an die Tür seiner Tochter klopft. Vielleicht sieht man aus diesem
Grund hier keine Paare, die ein großer Altersunterschied trennt.
Etwas anderes fällt mir auf: Ich habe in der Mosuo-Gemeinschaft noch keine Homosexuellen getroffen. Es gibt sie nicht – das
zumindest behaupten die von mir Interviewten. Man darf allerdings nicht vergessen, dass Homosexualität in China bis vor kurzem
unter Strafe stand.
Tsunami Ana hält nun wieder das kleine Kind auf dem Arm.
»Ist das Kind Ihr Enkel?«
»Ja.«
»Und die Mutter?«
»Sie arbeitet, wahrscheinlich sehen wir sie später
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