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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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die Architektur in diesem Dorf anders ist als in Luoshui. Die Häuser, selten aus Holz, sondern aus Erdmaterialen
     erbaut, sind von Palisaden umgeben, die in einem roten Satteldach enden. Was mir außerdem auffällt – nein, was mich wirklich
     überwältigt! –, ist der strahlend blaue Himmel über Yunnin. In der Nacht sieht man hier so unfassbar viele Sterne, dass mich
     das Gefühl beschleicht, nie zuvor wirklich einen Himmel gesehen zu haben.
    In Yunnin wird kein Chinesisch gesprochen. Die Bewohner unterhalten sich im Mosuo-Dialekt, den |69| Lei nicht versteht. Wäre ich nicht mit Rugeshi Ana in Kontakt gekommen und wäre sie nicht bereit gewesen, mich zu begleiten,
     dann würde ich in diesem Augenblick wohl nicht an diesem abgeschiedenen Flecken der Erde neben ihrer Großmutter herspazieren,
     der Heldin einer zweiunddreißigköpfigen Familie, einer Frau mit zügigem Schritt und einem Namen, den man nicht nennen soll.
    Enkelin und Großmutter plaudern miteinander, und obwohl ich kein Wort verstehe, vermute ich, dass Rugeshi Ana ihr erklärt,
     was mich hierher geführt hat. Meine Anwesenheit muss Tsunami Ana so merkwürdig vorkommen, wie mir die Landung einer Raumfähre
     in meinem Wohnzimmer erschiene. Aber sie bewahrt Haltung, schaut mich an, nickt.
    In diesen Breiten braucht man, wenn von der Großmutter die Rede ist, nicht zu fragen, ob väterlicher- oder mütterlicherseits.
     So wie es nur eine Mutter gibt, gibt es auch nur eine Großmutter: die Mutter der Mutter. Den Großvater, die strahlende Gestalt
     der chinesischen Kultur, sucht man bei den Mosuo vergeblich. Der gebildete alte Mann, Träger und Vermittler einer jahrtausendealten
     Kultur, Hort der Weisheit, verehrter und gefürchteter Meister, Stützpfeiler der Zivilisation – diese Figur des chinesischen
     Patriarchen, von dem das Kino ein stereotypes Bild zeichnet, hat sich bei den Mosuo offenbar |70| eine Auszeit genommen. Und siehe da: die Gesellschaft bricht dennoch nicht auseinander, die Kultur entwickelt sich dennoch
     weiter, die Familien überleben auch ohne ihn, und es wachsen neue, hoffnungsfrohe Generationen heran.
    Rugeshi Anas Großmutter trägt einen kleinen Jungen auf dem Rücken, er ist in Stoff gehüllt und festgebunden. Der Kleine drückt
     seine Brust auf den Rücken der alten Frau und schaut erstaunt über ihre Schulter in die Welt. Um das Gleichgewicht zu halten,
     neigt sich die Frau zu einer Seite und der Kleine automatisch zur anderen. Sie wirken wie eine Einheit, wie ein unteilbares
     Ganzes mit zwei Gesichtern, die Anfang und Ende des Lebens bedeuten. Ein Zopf ragt unter dem Kopftuch der faltigen, dürren,
     aber äußerst zähen alten Dame hervor. In ihrem Blick liegt eine ungeheure Stärke. Mühelos marschiert sie die Anhöhe hinauf
     und gestikuliert munter beim Sprechen.
    Wir befinden uns auf dem Nachhauseweg von Tsunami Anas Freundin, ein Ausflug von drei Kilometern, den sie beinahe täglich
     zu Fuß bewältigt.
    »Freundinnen haben bei uns einen ganz besonderen Status, sie sind wie Familie«, erklärt mir Rugeshis Großmutter. Und auf meine
     Frage, was die Beziehung zwischen Frauen denn so besonders mache, antwortet sie knapp: »Wir reden.«
    |71| Im Unterschied offenbar zum Mann, der sich gern abseits hält und für gewöhnlich zufrieden ist, wenn er ein Plätzchen gefunden
     hat, wo er dösen kann. Wenn die Männer wach sind und sich treffen, dann spielen sie Karten oder Mahjong.
    Im Haus der Matriarchin Ana folgt das übliche Ritual: Beim Eintreten müssen wir den Kopf senken und versammeln uns um die
     Feuerstelle. Tsunami Ana hebt zwei Holzscheite an, um das Feuer anzufachen. Sie stellt das Wasser für den obligatorischen
     Buttertee auf – ich hasse Buttertee. Dann entschuldigt sich die alte Dame.
    »Wahrscheinlich holt sie eine Freundin, sie ist gleich zurück«, sagt Rugeshi Ana.
    Lei lächelt nervös und hebt seufzend die Arme. Diese eigenartigen Symptome sind mir bei ihm in letzter Zeit häufiger aufgefallen.
    »Was hast du?«, frage ich.
    »Nichts, nichts«, sagt er, lächelt und seufzt wieder. Er zündet sich eine Zigarette an, auch sein Zigarettenkonsum ist besorgniserregend
     angestiegen.
    Schließlich beichtet er mir, wie entsetzt er von dem ist, was er in den Gesprächen immer wieder hört. Lei stammt aus einer
     traditionellen Familie, ihm widerstreben Wesen und Verhalten der Mosuo-Frauen zutiefst.
    |72| Tsunami Ana kehrt zurück und übergibt den Kleinen ihrer Enkelin. Das Hauptzimmer, in dem
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