Das Paradies
verteidigt. Der junge Mann wurde freigesprochen.
Amira legte die Zeitung beiseite und blickte aus dem Fenster. Durch das endlose gelbe Meer der Sahara zog sich ein grüner fruchtbarer Streifen – das Niltal. Die Trennungslinie zwischen Wüste und Vegetation war so scharf gezogen, daß es aus der Luft den Anschein hatte, als könnte man mit einem Fuß im dichten Gras stehen und mit dem anderen auf Sand.
Das entspricht meiner Verfassung, dachte sie. Ich bin zweigeteilt. Die eine Seite will wieder in Ägypten sein, die andere fürchtet sich davor.
Gewiß, sie hatte Distanz zu ihrer schrecklichen Vergangenheit und ihren unerträglichen Erinnerungen gewonnen. Aber würde die Rückkehr alte Wunden wieder aufreißen?
Amira wollte auf keinen Fall an die Familie in Kairo denken oder an Hassan al-Sabir. Sie freute sich auf Declan Connor. Beinahe fünfzehn Jahre waren vergangen, seit sie gemeinsam das medizinische Handbuch übersetzt hatten. Nun würden sie wieder zusammenarbeiten.
Über dem Dröhnen der Motoren hörte sie die Stimme des Piloten. Der Hubschrauber setzte zur Landung an. Amira blickte neugierig nach unten. Sie sah den Nil und nicht weit davon einen Bewässerungskanal, Hütten, gelbliche Sanddünen, niedrige Felsen, ein paar Ruinen, vielleicht die Überrreste einer alten Totenstadt, eine Straße, die wie ein schwarzes Band in den Wüstenboden gekratzt zu sein schien, und schließlich einen Wellblechschuppen und einen betonierten Platz, der von einem Drahtzaun mit einem großen Tor umgeben war.
Zwei Fahrzeuge fuhren dicht hintereinander auf der holprigen Straße zum Hubschrauberlandeplatz und hielten vor dem Eisentor an. Dort stand eine kleine gemauerte Hütte und ein Schild mit der Aufschrift AL TAFLA in Englisch und Arabisch, von dem die Farbe abblätterte. Als der Hubschrauber dicht über dem Beton schwebte, sah Amira, wie die Fahrer aus dem Wagen sprangen und auf den Landeplatz liefen. Die beiden Männer trugen Khakisachen und hielten ihre Hüte fest. Es waren ein Nubier und ein sonnengebräunter Engländer. Connor! Amira spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte.
Der Hubschrauber setzte auf, und Dr. Connor und Nasr liefen zum Einstieg. Aus der Funkerhütte kam ein Fellache in einer Galabija herbeigerannt und winkte einer Gruppe schwarzgekleideter Beduinen zu, die im Schatten eines Felsens neben ihren Kamelen hockten.
»Al hamdu lillah!«
rief Connor dem Piloten zu, der ihn durch das offene Fenster grüßte.
»Salaamat!«
»Salaamat!«
rief der Mann. Der Pilot arbeitete wie Nasr für die Treverton-Stiftung und flog in abgelegene Wüstengebiete oder nach Oberägypten, wenn Medikamente oder Personal gebraucht wurden.
Der Nubier ging nach hinten, um die Ladeluke zu öffnen. Connor wartete und betete, daß sich sein Nachfolger an Bord befand. Aber als er sah, daß eine Frau in Jeans und einem T-Shirt in der Öffnung erschien, deren blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden war, runzelte er die Stirn. Plötzlich wurden seine Augen groß vor Staunen. »Amy?!«
»Hallo, Dr. Connor«, rief sie lächelnd und sprang auf die Erde. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie schön es ist, Sie wiederzusehen.«
»Du meine Güte«, sagte er und ergriff ihre Hand. »Amy van Kerk! Was um alles in der Welt tun Sie denn hier?«
»Hat Ihnen die Verwaltung in London nicht mitgeteilt, daß ich kommen würde?«
»Leider sind die Nachrichtenverbindungen nicht sehr zuverlässig oder besonders schnell. Vermutlich kommt die Nachricht von Ihrer bevorstehenden Ankunft in ein oder zwei Wochen!« Er schüttelte ihr die Hand. »Das ist ja großartig! Wie lange ist es her?«
»Sieben Jahre. Wir haben uns zuletzt bei der Demonstration in der Wüste von Nevada gesehen. Erinnern Sie sich?«
»Wie könnte ich das vergessen?« Er hielt ihre Hand einen Augenblick länger als nötig und sagte dann: »Wir müssen uns um die Fracht kümmern. Ich hoffe, sie haben das neue Serum und die Einweg-Injektionsspritzen mitgeschickt, die ich angefordert hatte.«
Connor ging um den Hubschrauber herum zur Ladeluke und half Nasr, die Aluminiumkästen mit der Aufschrift WORLD HEALTH ORGANIZATION in einem der Geländewagen zu verstauen. Amira wandte sich nach Osten, in Richtung Nil, schloß die Augen und genoß den kühlen Wind auf dem Gesicht.
Die Raschids sind alle in Kairo. Sie können mir hier in dem kleinen Dorf nichts tun, sagte sie sich mit klopfendem Herzen.
Schließlich kam Connor zurück und fragte: »Ist das Ihr ganzes
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