Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
überdeckte den entsetzlichen Scheiterhaufen mit Eibenzweigen und Erde. Jahre später musste er ihn dann wieder ausbuddeln und die zu gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus ihrem Grab holen. Wenn er nicht Häute ein-oder ausgrub, dann schleppte er Wasser. Monatelang schleppte er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer, Hunderte von Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser zum Waschen, zum Weichen, zum Brühen, zum Färben. Monatelang hatte er keine trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die Kleider von Wasser, und seine Haut war kalt, weich und aufgeschwemmt wie Waschleder.
Nach einem Jahr dieser mehr tierischen als menschlichen Existenz bekam er den Milzbrand, eine gefürchtete Gerberkrankheit, die üblicherweise tödlich verläuft. Grimal hatte ihn schon abgeschrieben und sah sich nach Ersatz um - nicht ohne Bedauern übrigens, denn einen genügsameren und leistungsfähigeren Arbeiter als diesen Grenouille hatte er noch nie gehabt. Entgegen aller Erwartung jedoch überstand Grenouille die Krankheit. Ihm blieben nur die Narben der großen schwarzen Karbunkel hinter den Ohren, am Hals und an den Wangen, die ihn entstellten und noch hässlicher machten, als er ohnehin schon war. Ihm blieb ferner - unschätzbarer Vorteil - eine Resistenz gegen den Milzbrand, so dass er von nun an sogar mit rissigen und blutigen Händen die schlechtesten Häute entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch unterschied er sich nicht nur von den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch von seinen eigenen potentiellen Nachfolgern. Und weil er nun nicht mehr so leicht zu ersetzen war wie ehedem, stieg der Wert seiner Arbeit und damit der Wert seines Lebens. Plötzlich musste er nicht mehr auf der nackten Erde schlafen, sondern durfte sich im Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh darauf geschüttet und eine eigene Decke. Zum Schlafen sperrte man ihn nicht mehr ein. Das Essen war auskömmlicher. Grimal hielt ihn nicht mehr wie irgendein Tier, sondern wie ein nützliches Haustier.
Als er zwölf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde lang weggehen und tun, was er wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und er besaß ein Quantum von Freiheit, das genügte, um weiterzuleben. Die Zeit des überwinterns war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das größte Geruchsrevier der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris.
— 7 —
Es war wie im Schlaraffenland. Allein die nahegelegenen Viertel von Saint-Jacques-de-la-Boucherie und von Saint-Eustache waren ein Schlaraffenland. In den Gassen seitab der Rue Saint-Denis und der Rue Saint-Martin lebten die Menschen so dicht beieinander, drängte sich Haus so eng an Haus, fünf, sechs Stockwerke hoch, dass man den Himmel nicht sah und die Luft unten am Boden wie in feuchten Kanälen stand und vor Gerüchen starrte. Es mischten sich Menschen-und Tiergerüche, Dunst von Essen und Krankheit, von Wasser und Stein und Asche und Leder, von Seife und frischgebackenem Brot und von Eiern, die man in Essig kochte, von Nudeln und blankgescheuertem Messing, von Salbei und Bier und Tränen, von Fett und nassem und trockenem Stroh. Tausende und Abertausende von Gerüchen bildeten einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten der Gassen anfüllte, sich über den Dächern nur selten, unten am Boden niemals verflüchtigte. Die Menschen, die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr; er war ja aus ihnen entstanden und hatte sie wieder und wieder durchtränkt, er war ja die Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine langgetragene warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut spürt. Grenouille aber roch alles wie zum ersten Mal. Und er roch nicht nur die Gesamtheit dieses Duftgemenges, sondern er spaltete es analytisch auf in seine kleinsten und entferntesten Teile und Teilchen. Seine feine Nase entwirrte das Knäuel aus Dunst und Gestank zu einzelnen Fäden von Grundgerüchen, die nicht mehr weiter zerlegbar waren. Es machte ihm unsägliches Vergnügen, diese Fäden aufzudröseln und auszuspinnen.
Oft blieb er stehen, an eine Hausmauer gelehnt oder in eine dunkle Ecke gedrängt, mit geschlossenen Augen, halbgeöffnetem Mund und geblähten Nüstern, still wie ein Raubfisch in einem großen, dunklen, langsam
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