Das peinlichste Jahr meines Lebens
je als Huhn verkleiden muss, werde ich die Finger rot anmalen und das Ganze auf dem Kopf tragen, denn der Handschuh ist eindeutig so groß, dass ich ihn über meinen Schädel stülpen kann. Dann verbrachte ich einige Sekunden damit, mich zu fragen, warum ich mich je als Huhn verkleiden sollte.
Auf dem Schreibtisch fand ich auch den Laptop. Er lief schon. Meine Datei war geöffnet, also hatte sie mein Zeug wieder gelesen (zu meiner Überraschung scheint mich das gar nicht zu stören).
Neben dem Laptop lag eine halbe Schachtel Kekse. Unglücklicherweise waren es Bourbon Creams. Die kann ich aus zwei Gründen nicht ausstehen: a) Sie erinnern mich an meinen Bruder; b) Sie schmecken nicht annähernd so gut wie Custard Creams (meine absoluten Lieblingskekse), obwohl sie edler sein sollen. Trotzdem sind sie (ein bisschen) besser als gar nichts, und außerdem weiß Miss O’Malley nicht, dass ich sie nicht mag. Sie versucht einfach, nett zu sein. Deshalb werde ich einen oder zwei davon runterwürgen, um ihr meine Dankbarkeit zu zeigen.
Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel, auf dem stand: »Lieber Michael. Schreib bitte weiter. Tut mir leid, dass ich nicht da sein kann. Ich muss mich mit jemandem treffen. Das ist schade, denn ich hatte das Gefühl, dass wir Fortschritte machen, aber der Mann, mit dem ich mich treffe, kann dir vielleicht helfen. Ich erzähle dir später davon. Hoffentlich kann ich ihn zu einem Besuch überreden.«
Als ich von dem geheimnisvollen Mann las, erschauderte ich. Ich mag keine Überraschungen. Die habe ich noch nie gemocht, aber der Grund, warum ich sie
wirklich
nicht mag, wird euch bald klar sein. Von alldem, was mir zugestoßen ist, waren die Überraschungen das Schlimmste.
Warum ich wirklich keine Überraschungen mag
Nachdem mein Bruder weggefahren war, verließen Paul und ich also das Freizeitzentrum. Normalerweise gehe ich samstags nach dem Training in die Stadt und zahle einen Teil meines Taschengelds auf mein Bankkonto ein. Ich finde, man kann nicht früh genug an die Zukunft denken. Doch bis jetzt habe ich noch keinem erzählt, dass ich regelmäßig spare. [13] Da ich Paul nicht erklären wollte, wo ich hinging, und ihn auch nicht anlügen wollte, beschloss ich, stattdessen direkt nach Hause zu gehen. Ich konnte das Geld ja bis zum folgenden Samstag in mein Sparschwein stecken.
Diese Entscheidung führte dazu, dass ich früher als erwartet nach Hause kommen würde, auch wenn mir das in diesem Moment noch nicht klar war.
Und das sollte verheerende Folgen haben.
Als wir in unsere Straße bogen, sprang Paul herum wie ein Labradorwelpe. »Kannst du dir vorstellen, dass dein Bruder gerade mit Lucy King rumknutscht?«
»Nein«, sagte ich zähneknirschend. Seit wir vom Freizeitzentrum aufgebrochen waren, hatte ich an nichts anderes gedacht. Mir war davon richtig übel.
»Weißt du, ich und dein Ste, wir haben eine Menge gemeinsam«, sagte Paul.
»Zum Beispiel?«, fragte ich stöhnend.
Ich rechnete wirklich damit, er würde mir verraten, dass auch Ste auf Chips mit Speckgeschmack stand und gern Taucherausrüstungen stahl, um junge Sportlerinnen zu begaffen.
Paul schniefte. »Wir kommen beide bei Frauen gut an.«
Ich blieb mitten auf der Straße stehen. »Frauen? Wovon redest du? Bist du überhaupt schon mal einer Frau begegnet, ohne sie zu belästigen?«
Paul schob die Unterlippe vor wie ein schmollender Dreijähriger. »Ich hatte eine Freundin, nur dass du’s weißt. Sie war …«
»… Französin, ich weiß«, erwiderte ich. »Sie fand es ungeheuer beeindruckend, dass dein Onkel das Wohnmobil erfunden hat.«
»Den Wohnwagen«, brummte Paul.
Schweigend gingen wir bis zum Ende unserer Straße, wo er plötzlich sagte: »Hey! Kann ich mir das Buch in deinem Zimmer mal ansehen?«
Das Buch
heißt
Mein Körper verändert sich
. Es wurde von einer albernen Frau namens Floella Rampazzo geschrieben und ist eins dieser schrecklichen Bücher übers Erwachsenwerden, die man irgendwann bekommt. Meine Mum hat es gekauft und mir letztes Jahr auf den Nachttisch gelegt. Die Kapitel darin haben Überschriften wie »Heute Haar, morgen mehr«, »Infos über Läuse« oder »Höh(l)lischer Körpergeruch«. Paul liebt dieses Buch, weil es voller Zeichnungen von nackten Menschen ist. Er ist echt zu bedauern.
Als wir an unserer Haustür ankamen, fiel mir auf, dass die Vorhänge zugezogen waren. Schon da hätte ich umkehren sollen. Das hätte ich wirklich tun sollen. Mir hätte klar sein müssen, dass
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