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Das peinlichste Jahr meines Lebens

Das peinlichste Jahr meines Lebens

Titel: Das peinlichste Jahr meines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lowery
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Pfeifen nicht. Mein Dad hat mal gesagt, ich soll keinem Klempner trauen, der pfeift, wenn man ihn danach fragt, wie viel die Reparatur kostet. Ich weiß, dass Miss O’Malley kein Klempner ist (ihre Hände dürften sowieso viel zu groß sein, um an Rohren herumzufummeln), aber ich glaube, es geht darum, dass Leute oft pfeifen, wenn sie unehrlich sind. Das hier war
eindeutig
ein unehrliches Pfeifen.
    Bei diesem Pfeifen schauderte ich, und sie zog sich zurück, ließ mich in Ruhe und tat so, als würde sie die Regale aufräumen. Mehr kann ich an einem einzigen Tag nicht verkraften.

Umgang mit Gefühlen, 5 . Sitzung
    Heute fing die Sitzung nicht besonders gut an. Als ich den Raum betrat, saß Miss O’Malley dort neben einem Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Am besten lässt er sich wohl mit dem Wort »lang« beschreiben. Er hatte einen langen schmalen Körper, eine lange Nase, einen langen grauen Pferdeschwanz, der ihm den ganzen Rücken hinabhing, und lange gelbe Zähne. Er trug eine hautenge Jeans, die sich um seine langen, spindeldürren Beine spannte, riesige, klobige Basketballschuhe und eine Baseballkappe. Ehrlich. Eine
Baseballkappe
. Dabei ging er bestimmt auf die Fünfzig zu.
    »Yo, Alter«, sagte er, als ich eintrat (Ich schwör’s bei meinem Leben –
Alter
). »Was läuft?«
    Ich sah Miss O’Malley stirnrunzelnd an, und sie versuchte, mich mit einem breiten Lächeln zu beruhigen. »Michael, ich möchte dich gern mit Chas bekanntmachen. Du weißt doch noch, dass ich mich neulich mit jemandem getroffen habe? Also, das war Chas. Er ist Dozent an der Universität. Ich hab dir ja erzählt, dass wir Besuch bekommen.«
    Chas (vermutlich heißt er mit richtigem Namen Charles) stellte mit zwei Fingern eine Pistole nach und schnalzte mit der Zunge. Dabei gaben die Lippen seine spitzen Zähne frei, so dass er wie ein ausgehungertes Meerschweinchen aussah.
    »Ogottogott«, sagte ich.
    »Fetzig«, sagte Chas. [15]
    »Will jemand ein Glas Orangensaft?«, fragte Miss O’Malley.
    »Klaro«, sagte Chas. Während sich Miss O’Malley auf der anderen Seite des Raums beschäftigte, tippte Chas auf die Tastatur des eingeschalteten Laptops. »Also, Mann. Ziemlich hart zu Hause, hm?«
    Das gefiel mir nicht. Nicht im Geringsten. Er hatte gelesen, was ich geschrieben hatte. Das war nicht gut. Es störte mich zehntausendmal mehr als dass Miss O’Malley es gelesen hatte.
    Miss O’Malley hatte meine große Enttäuschung anscheinend bemerkt. »O Michael, tut mir leid, dass ich es dir nicht vorher gesagt habe. Ich habe deine Mum angerufen. Sie hat Chas die Erlaubnis gegeben, sich deine Gedanken mal anzusehen. Hat sie dich nicht gefragt?«
    Also, das ist mal wieder typisch für meine Mum. Sie hat meine Gedanken nicht nur für immer zerstört, sondern jetzt besitzt sie auch noch die Rechte daran. Kann ja sein, dass ich seit über einer Woche in einem Zelt hinten im Garten lebe und mich weigere mit ihr zu sprechen, aber das ist ja wohl nicht der Punkt. Sie hätte mir ja einen Brief schreiben und mich um Erlaubnis fragen können, oder eine Brieftaube schicken können. »Nein«, sagte ich steif, »merkwürdigerweise hat sie mich nicht gefragt.«
    Chas rieb sich die Hände. »Also, die schöne Miss O’Malley sagt, dass du seit der ganzen Sache nicht mehr viel sprichst, hm?«
    Ich zuckte mit den Schultern. Im Hintergrund hörte ich Miss O’Malley vor Freude kichern, weil er sie schön genannt hatte.
    »Das ist cool, Mann. Das ist absolut cool. Ich schnalle, was bei dir abgeht. Weißt du, ich mag Leute, die nicht viele Worte machen. Aber lass mich zur Sache kommen. Ich bin Psychologe.«
    Ein Seelenklempner. Na toll – Miss O’Malley hat ihm offenbar gesagt, dass ich übergeschnappt bin.
    Chas schien meine Sorge zu bemerken. »Keine Sorge, M-Dog. Ich mach nichts Schlimmes. Ich bin spezialisiert auf Kinder mit Problemen, weißt du? Wenn’s zu Hause nicht rundläuft, Mobbing, Essstörungen, Bettnässen und solche Sachen.«
    Ich spürte, wie sich meine Stirn runzelte. Chas schien es nicht zu bemerken. Er zog die Nase hoch und drehte seine Baseballkappe um, so dass sie verkehrt rum saß.
Verkehrt rum
. Ich will bloß noch mal anmerken, dass er fünfzig Jahre alt ist.
    »Also, Miss O’M ist gestern bei mir an der Uni aufgetaucht und hat mir von deinen ganzen Problemen berichtet.«
    Ich warf Miss O’Malley einen wütenden Blick zu, doch sie inspizierte plötzlich ganz konzentriert die Nährwertangaben auf der

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