Das Perlenmaedchen
die sie als Säugling auf dem Meer ausgesetzt hatte. Sie hätte ihm gern erzählt, dass ihr Leben von Verlusten geprägt war, sie aber nicht die Hoffnung aufgeben wollte, eines Tages glücklich zu werden. »Selbst ein Verlust geht mit Hoffnung einher«, fügte sie hinzu. »Nichts dauert ewig.«
»Wie kannst du dir dessen so sicher sein?«
»Hast du jemals die Brandung im Ozean beobachtet? Die Wellen, die auf den Strand zurollen?«
»Einmal«, erwiderte er leise. »Oberhalb der Bucht von Campeche. Warum?«
»Ebbe und Flut sind nicht unwandelbar, sie vollziehen sich nie auf gleiche Weise. Wenn sich das Wasser bei Ebbe zurückzieht, befürchten wir, dass es nicht wiederkommt. Aber das tut es immer, nur in anderer Form, als eine andere Welle. Das Leben ist wie das Meer.«
Ihre leise geäußerten Worte, die noch in der Abendluft hingen, fesselten ihn mehr als Stricke dies vermocht hätten. Als er den Kokosnussduft ihres Körpers einatmete und das zarte Klimpern der unzähligen Muscheln in ihrem Haar vernahm, als er sich vergegenwärtigte, wie sich ihre Schultern angefühlt hatten, als sie weggelaufen war und er sie eingefangen hatte, als er an ihren lebensspendenden Kuss im Wasserschacht dachte und als er jetzt sah, wie sich das Mondlicht in ihren dunkelbraunen Augen spiegelte, begriff er die Wahrheit und Weisheit ihrer Worte.
»Ich glaube«, flüsterte sie, »ich habe etwas, das helfen könnte.« Er sah, wie sie unter ihr Hemd und den Bund ihres Rockes griff. Nackte Haut in der Farbe von dunklem Honig wurde sichtbar.
»Hier«, sagte sie und reichte ihm lächelnd eine kleine blaue Feder. Selbst in der Dunkelheit konnte er sehen, wie sie glänzte, wie das Blau leuchtete.
»Was ist das?«
»Deine Gemahlin schenkte sie meinem Freund Tapferer Adler. Er hatte sein Gedächtnis verloren, und sie sagte, dies würde helfen. Da Tapferer Adler zu seinem Volk zurückgekehrt ist, wird die wundersame Feder jetzt möglicherweise dir helfen.«
Chac streckte die Hand aus, und die Feder landete so weich in seiner schwieligen Handfläche, dass er sie gar nicht spürte. Rührung überkam ihn.
Als er jetzt Tonina ansah, ergriff ein anderes Gefühl von ihm Besitz. Am liebsten hätte er dieses Mädchen an sich gezogen und seinen Mund auf den ihren gepresst.
»Ich werde gut auf sie achtgeben«, sagte er und schob die kleine Feder in den Bund seines Lendenschurzes, um dann hinzuzufügen: »Morgen brechen wir zur Küste von Quatemalán auf.« Einauge, der sich auskannte, hatte bestätigt, dass die östliche Bucht in der Tat in acht Tagen zu erreichen war. Tonina würde also bald die rote Blume in Händen halten.
»Tonina.« Zum ersten Mal sprach Chac sie mit ihrem Namen an. »Du hast mich einmal gefragt, ob man sagen könnte, dass ich dir das Leben gerettet habe, wenn ich dich beschütze oder sicher zur Küste bringe. Ich habe diese Frage hin und her überlegt und bin zu dem Schluss gekommen, dass das in der Tat auf dasselbe hinausläuft. Wenn du allein aufgebrochen wärst, hättest du dich in große Gefahr begeben und möglicherweise dein Leben verloren. Weil du aber mit mir und diesen vielen Menschen unterwegs bist, wirst du heil die Küste erreichen. Bei der Gesegneten Göttin des Mondes schwöre ich, dass wir dann nicht länger aneinander gebunden sind. Die Götter werden gestatten, dass wir uns trennen. Und dann kann jeder von uns seines Weges ziehen.«
34
Haarlos verfolgte einen Leguan.
Um das schmackhafte Reptil zu erlegen, ahmte er dessen Schrei nach. Wenn das Tier dann das Maul aufriss, um zu antworten, galt es, ihm einen Stock in den Rachen zu rammen, damit es nicht beißen konnte, wenn es vom Baum heruntergezerrt wurde.
Aber dann sah er etwas, das ihn bis ins Herz traf.
Nach einem hastigen Gebet, mit dem er den Schutz der Götter erflehte, trat Haarlos eiligst den Rückzug an, um die anderen zu warnen.
Die beiden Lager wurden abgebrochen, Vorbereitungen für den Weg nach Osten, zur Küste, getroffen. Chacs Gefolgsleute warteten gespannt darauf, dass Tonina die rote Blume fand und H’meen mit ihr mannigfache Heilerfolge verzeichnen konnte. Bald, so versicherten sie sich gegenseitig, würden die Lahmen gehen, die Blinden sehen können und unfruchtbare Frauen schwanger werden.
Nur Balám wusste, dass der Tag anders enden sollte.
Auf dem Marktplatz kam Haarlos angerannt. »Herr!«, rief er, »wir sind am Ende der Welt angelangt! Da lang, nach Süden, ist Wasser ! Nichts als Wasser!«
Man umringte den erregten Mann.
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