Das Perlenmaedchen
Anstalten machte, sich ans Feuer zu setzen, schwirrte Baláms Speer so schnell durch die Luft, dass der Junge nicht mehr ausweichen konnte. Die scharfe Spitze schnitt sich in seinen Schenkel. Mit einem Schrei sprang er auf, drückte die Hand auf die blutende Wunde.
»Ich bin Prinz Balám aus dem Königshaus von Uxmal«, sagte Balám mit kehligem Grollen, »Held der Dreizehn Spiele. In meiner Gegenwart hast du nicht zu sitzen.«
Eingeschüchtert wichen sie zurück. Sie schienen weder zu wissen, wer er war, noch dass er Schande auf sich geladen hatte. Offenbar hatte im tiefen Süden niemand davon gehört. »Warum folgt ihr uns?«, fragte er.
»Wir wohnen ganz in der Nähe, edler Prinz«, antwortete der älteste der Fremden, ein Mann Mitte zwanzig und lediglich mit einem schmutzigen Lendenschurz bekleidet. »Wir sind chicle- Ernter. Wohin geht Ihr, edler Prinz? Dürfen wir uns Euch anschließen?«
Balám seufzte. Auf ein großes Gefolge war er nicht erpicht. Aber ruhelose junge Männer fühlten sich zu ihm hingezogen, auch wenn er betonte, dass er kein Ziel verfolgte, bei dem man seine Tapferkeit unter Beweis stellen musste. Vergebens. Sie wollten weg von Bauernhöfen und gestrengen Vätern, sie wollten Abenteuer erleben und Ruhm ernten.
»Wir werden immer mehr bedrängt«, brachte der junge Mann vor, so als stünde er vor einem Richter. »Aus dem fernen Norden dringen sie bei uns ein – diese Hunde von Chichimeken, Huasteken, Zapoteken. Sie besiedeln unser Land und stehlen unsere Frauen. Unser Häuptling ist schwach. Er unternimmt nichts gegen diese Eindringlinge, die sich wie Kröten hier ausbreiten. Lasst uns mit Euch ziehen, edler Prinz.«
Balám grunzte und wischte das Blut von seinem Speer. Er hatte diese sogenannten Eindringlinge gesehen – ein bunt gemischtes, erbärmliches Gesindel, das sich auf der Flucht vor den ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden Richtung Süden durchschlug, in der schwachen Hoffnung, hier ein Auskommen zu finden.
»Ihr könnt mitkommen«, sagte er und gab einem seiner Vettern ein Zeichen, sich um die Neuankömmlinge zu kümmern. »Nur der nicht«, fügte er hinzu und deutete auf den Mann, dessen Schenkel verletzt worden war und der sich auf dem Boden wand. Baláms Speer hatte eine Arterie durchbohrt. »Für seine Respektlosigkeit soll er verbluten.«
»Ihr werdet Eure Entscheidung nicht bereuen, edler Prinz«, sagte der Wortführer der chicle- Erntearbeiter und sah besorgt auf seinen verwundeten Freund. Keiner kam dem Verletzten, der jetzt die Besinnung verlor, zu Hilfe. »Wir sind stark und furchtlos, wie Krieger. Unsere Arbeit ist sehr gefährlich und erfordert Mut.« Balám blinzelte zu dem jungen Mann hoch. »Gefährlich sagst du? Inwiefern?«
»Wir müssen hohe Bäume hinaufklettern und Schnitte an der Borke anbringen. Wir benutzen dazu Seile, so … « Mit Gesten verdeutlichte er, wie schwierig das Hochklettern war. »Man ist allein auf sich gestellt, jeder auf einem anderen Baum, manchmal sehr weit voneinander entfernt. Wer dabei ausrutscht, verfängt sich im Seil und hängt dort, bis jemand kommt und ihn befreit. Das kann schon mal Tage dauern.«
»Tage?« Balám sah die Szene plastisch vor sich.
»Meinem Bruder ist es so ergangen. Nachdem er nicht wieder im Lager erschien, haben wir ihn gesucht. Aber der Sapotillwald ist riesig, und als wir ihn fanden, hing er bereits seit drei Tagen am Baum. Ich stieg so rasch es ging zu ihm hoch, aber er starb, noch ehe ich ihn retten konnte.«
»Er starb, noch ehe du ihn retten konntest«, murmelte Balám. In seinem Kopf nahm ein Plan Formen an.
»Ein schrecklicher, ein qualvoller Tod ist das, edler Prinz.«
Balám nickte. Schreckliche, qualvolle Tode waren ihm vertraut. Er sah auf den blutenden Mann, der bewusstlos war, aber noch lebte, und grinste unvermittelt seine Vettern an. »Fünf Stück Jade, dass ihr ihn bis zum Sonnenuntergang nicht am Leben halten könnt!«
Augenblicklich beugten sie sich über den sterbenden Mann, besprachen sich leise, um sich dann, nachdem sie auf die Wette eingegangen waren, mit Bandagen und Staubinden über den armen Kerl herzumachen.
Balám beugte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und sagte zu den chicle- Erntern: »So, und jetzt möchte ich von euch mehr über diese gefährlichen Bäume erfahren … «
Nicht zum ersten Mal hatte sich Chac unbemerkt von der Gruppe entfernt und war in einem Dorf oder im Wald verschwunden. Da sein Ziel jedes Mal das gleiche
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