Das Perlenmaedchen
Wasserwirbel seine Knöchel umspülten.
Er blieb stehen. Nein, das war zu viel verlangt.
Und dann drehte der Wind, trug ferne Stimmen über den See, und er erkannte das verächtliche Gelächter seines Freundes Balám. Es überraschte ihn nicht. Chac hatte sich stets gefragt, ob Balám ihn jemals als gleichwertig angesehen hatte, ob er hinter all den beschwörenden Worten von Zuneigung und Bruderschaft in Chac nicht doch noch immer den Sohn einer einfachen Küchenmagd sah. Jetzt und dank Tonina bot sich ihm die Gelegenheit, Balám zu zeigen, wer er wirklich war und was in ihm steckte – und den Mut der Blutlinie zu beweisen, die die Maya als barbarisch werteten.
Vorsichtig ging er weiter, setzte auf dem schlammigen Grund einen Fuß vor den anderen. Das kalte Wasser reichte ihm schon bis zu den Waden, dann bis zu den Knien und Oberschenkeln. Immer näher kam er Tonina, legte schließlich seine Hände in ihre. Sie zog ihn hinaus, bis er um seine Mitte den sanften Sog einer Strömung spürte, so als hieße ihn der See willkommen. Vom Ufer her war verwundertes Raunen zu vernehmen, vermischt mit Siegesgeschrei und laut zum Ausdruck gebrachter Enttäuschung über die gewonnenen oder verlorenen Wetten.
Jetzt, da er so dicht bei Tonina war, nahm Chac, da das Wasser einen Großteil ihrer Bemalung abgewaschen hatte, ihre vollen Lippen wahr, die hohen Wangenknochen, ihre Augen, die nicht schräg standen, die nicht fliehende Stirn. Sie stammt weder von den Inseln noch ist sie eine Maya, stellte er fest, sie ist etwas ganz anderes …
Von einem entfernteren Uferstück aus beobachtete Balám scheinbar gleichgültig die Szene. Diese Kursänderung zum See kam zwar unerwartet, beeinträchtigte aber nicht seinen Racheplan, der während des Gesprächs mit den chicle- Erntern Gestalt angenommen hatte.
Während er das seiner Meinung nach unwürdige Spektakel draußen auf dem See verfolgte – Chac der Held, der sich von einem gewöhnlichen Inselmädchen verführen ließ –, wanderten seine Gedanken zurück nach Tikal, der Stadt, die er am Morgen ausgekundschaftet hatte. »Tikal soll über tausend Jahre alt sein«, raunte er jetzt dem Vetter zu, der neben ihm stand, ein junger Mann, der ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. »Vor Hunderten von Jahren lebten dort mehr Menschen als sonst wo auf der Welt. Die Könige waren reich und mächtig. Die Götter segneten diesen Ort. Inzwischen sind sowohl die Götter als auch die Könige verschwunden.«
Der Vetter grunzte und kratzte sich in der Leistenbeuge. Für vergangene Größen und heruntergekommene Städte hatte er nichts übrig. Nachts hatte er es mit einer Frau aus der Gegend getrieben, und jetzt juckte es ihm fürchterlich im Schritt. »Wie lange müssen wir noch warten, Vetter?«
Um seine düsteren Gedanken zu vertreiben, schüttelte Balám den Kopf. Warum der Verfall der Stadt ihm zusetzte, konnte er nicht sagen. Aber eigentlich, so redete er sich ein, ging ihn das nichts an, und deshalb antwortete er: »Nicht mehr lange, dann wird es ernst.«
Tonina hatte Chac noch weiter hinausgelockt, das Wasser reichte ihm jetzt bis zur Brust. Noch immer hielt er ihre Hände fest. Wortlos schauten sie sich in die Augen. Einauge, der sie vom sandigen Ufer aus beobachtete, fragte sich, ob er als Einziger merkte, was in Wahrheit da draußen vor sich ging.
Schon in Mayapán hatte er sich in Tonina verliebt und seither die Hoffnung genährt, irgendwann mit ihr eine hamac zu teilen. Aber nun wusste er, dass sein Hoffen vergeblich war. Tonina würde nie und nimmer ihre Gunst einem so hässlichen Mann wie Einauge, dem Zwerg, schenken.
In diesem Moment bedachte sie Chac mit einem Blick, den Einauge nur zu gut kannte, gegen den Chac jedoch – Einauge hätte seinen gesamten Besitz darauf verwettet – immun zu sein schien. Was für eine verfahrene Situation, dachte der Zwerg, während er sich traurig abwandte. Er liebte Tonina, und Tonina liebte einen Mann, der an einer toten Ehefrau festhielt.
Poki, der kleine fette Hund, flitzte an ihm vorbei, um übermütig die Frösche im Schilf anzukläffen. Da tauchte auch schon H’meen auf, ein Lächeln in den von Runzeln umrahmten großen Augen und mit wehendem Haar. Nettes Kind, dachte Einauge, ein wenig aufdringlich zwar, aber immer darum bemüht, ihn aufzuheitern.
Unaufgefordert setzte sie sich zu ihm. »Warum behauptest du eigentlich dauernd, der hässlichste Mann der Welt zu sein?«, fragte sie.
Er schaute sie an. Hatte sie denn keine
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