Das Perlenmaedchen
Chac zog seine Karte heraus und beugte sich mit gerunzelter Stirn darüber. Wegen des hügeligen Geländes verlief der Weg zur Küste erst einmal in südlicher Richtung, um sich dann nach Osten zu wenden. Das Wasser zwischendrin war auf der Karte nicht verzeichnet. Irgendetwas stimmte nicht.
Chac befragte H’meen, die jedoch über diese Gegend nicht Bescheid wusste. Als er sich an Einauge wandte, sagte der InselHändler unwirsch: »Ausgerechnet der hässlichste Mann der Welt soll Rat wissen?« Zu guter Letzt fanden sich auf dem Marktplatz aber doch welche, die das Gewässer als Petén-See identifizierten, und als man lachend hinzufügte, dass vom Ende der Welt nicht die Rede sein könne, errötete der haarige Riese vor Verlegenheit.
»Der Weg biegt allerdings weit vor dem See nach Osten ab«, versicherte einer, der mit Töpferware handelte. »Ihr bekommt ihn gar nicht zu sehen.«
Chac merkte Tonina ihre Enttäuschung an. Es wäre ja nur ein kleiner Umweg, überlegte er.
Sie folgten einem uralten Pfad durch den dichten Wald. Affen schnatterten in den dichtbelaubten Bäumen, bewarfen die Prozession mit Früchten und Zweigen, immer wieder stoben farbenprächtige Tukane und Papageien vor ihnen auf.
Als sie ein sandiges Ufer erreichten, verstummten an die hundert Stimmen, weideten sich an die hundert Augenpaare vor Staunen.
Der See, in dem sich der graue Winterhimmel spiegelte, war so groß, dass man das gegenüberliegende Ufer kaum ausmachen konnte. Um ihn herum zogen sich Hügel und Wälder. Tonina ließ ihre Reisesäcke fallen und wollte sich ihrer Kleidung entledigen. Auf Einauges lauthalses Räuspern und seinen warnenden Blick hin ließ sie jedoch, eingedenk der so züchtigen Maya, davon ab, lief vollständig angezogen auf das Wasser zu, stürzte sich hinein und tauchte unter der Oberfläche ab.
Mit angehaltenem Atem verfolgten die Zuschauer, wie das Wasser über Tonina zusammenschlug und die kleinen Wellen sich wieder glätteten. Nach einer Weile machte sich Unruhe breit. Selbst Einauge, der unter Schwimmbegeisterten aufgewachsen war, verkrampfte sich. Tonina war schon viel zu lange da unten. Vielleicht lag es an den lästigen Kleidungsstücken …
Und dann tauchte sie urplötzlich wieder aus dem Wasser auf. Alle murmelten erleichtert.
Jetzt ließen auch ein paar Mutige wie Neugierige ihr Gepäck fallen und streiften ihre Umhänge ab, wateten zögernd in das kalte Wasser. Chac ließ Tonina nicht aus den Augen, sah, wie sie schwamm, herumtollte, sich aus dem Wasser schnellen ließ und wieder hinabtauchte. Wie die Delphine, die er in der Bucht von Campeche beobachtet hatte. Toninas Bewegungen strahlten Lebenslust aus. Auf einmal musste er daran denken, mit welcher Freude er auf dem Spielfeld hin- und herrannte, antäuschte, zum Spurt ansetzte.
Jetzt beendete sie ihre Wasserspiele und erhob sich wie eine Statue aus dem Wasser. Das nasse Hemd und der Rock modellierten die Umrisse ihres Körpers, Wassertröpfchen glitzerten auf den vielen kleinen Muscheln in ihrem Haar. Einen Moment erschien sie wie eine Meeresgöttin. Zu seiner Verblüffung winkte sie ihn zu sich.
Wollte sie ihn herausfordern? Sie wusste um seine Angst vor Wasser und dass er im Schacht in Chichén Itzá beinahe ertrunken wäre. Wollte sie sich über ihn lustig machen? Er sah, dass ihre Gesichtsbemalung teilweise abgewaschen worden war, und stellte abermals verwundert fest, dass sie nicht wie ein Inselmädchen aussah. Was war sie dann? Etwa eine Außenseiterin wie er?
In seinem Rücken spürte er die Blicke der am Ufer wartenden Menge. Die Maya sind wasserscheu, ging es ihm durch den Kopf, aber was ist, wenn das Volk, von dem ich abstamme, es nicht ist?
Schon begann man Wetten abzuschließen. Er vernahm aufgeregte Stimmen. »Fünf Kakaobohnen, dass er nicht ins Wasser geht!« »Zehn Kakaobohnen!« »Doch, er geht rein.« »Nein, er geht nicht!«
Eigentlich wollte Chac das Wagnis nicht auf sich nehmen, aber dann sah er es als Mutprobe an. Außerdem wollte er unbedingt wissen, wie Tonina ohne Bemalung aussah. Er schlüpfte aus seinen Sandalen, knüpfte seinen Umhang auf, ließ ihn zusammen mit seinen Reisesäcken und Waffen zu Boden sinken.
Mit zugeschnürter Kehle und klopfendem Herzen wagte er die ersten Schritte. Auch wenn er so oft verwundet worden war, dass er aufgehört hatte, die Narben von seinen Einsätzen auf dem Spielfeld auf seinem Körper zu zählen, erschien ihm das als nichts im Vergleich zu dem Gefühl, als die ersten
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