Das Perlenmaedchen
war, wusste Tonina auch diesmal, wo sie ihn finden konnte.
Seit Uxmal waren sie an Hunderten von Spielfeldern vorbeigekommen. Manche boten parallel verlaufende Mauern und eigens angelegte Querbereiche mit Sitzen für bevorzugte Zuschauer, andere waren nichts weiter als offene Felder mit entsprechenden Markierungen. Jedes Dorf verfügte über eine Mannschaft, und selbst der bescheidenste Bauernhof stellte für das Ballspiel eine Fläche zur Verfügung. Chac spielte nie, dagegen lieferten sich viele aus der Gruppe, die ihm folgte, heiße Wettkämpfe mit den Einheimischen. H’meen hatte alle Hände voll zu tun, Schnitte, Schrammen und gebrochene Knochen zu verarzten.
Diesmal fand Tonina Chac auf dem großen Spielfeld von Tikal. Tief in Gedanken versunken, stand er an einem Ende, den Blick auf die Längsseite des vom Mondlicht erhellten Rechtecks gerichtet, das noch Spuren eines kürzlich ausgetragenen Wettkampfs aufwies – verstreute lose Erdbrocken und Fetzen von Schutzkleidung, sogar eingetrocknete Blutlachen.
»Ich bin das Alleinsein nicht gewöhnt«, sagte er leise, als sie neben ihn trat. »Stets war ich umgeben von Menschen und Lärm, ob als kleiner Junge in der Palastküche oder in der Akademie oder in der Villa meiner Frau. Es ist ein eigenartiges Gefühl, allein zu sein.«
»Ich bin gern allein«, sagte Tonina. »Wenn ich nach Austern tauche, dann am liebsten allein. Ich liebe die Stille des Meeres.«
Er nickte. Lange hatte er nicht das Bedürfnis gehabt, sich abzusondern, aber jetzt empfand er Einsamkeit als seltsam verlockend. Wie es wohl war, überlegte er, in der Stille des Meeres zu schwimmen? »Du wirst bald wieder am Meer sein«, sagte er und schaute sie an. Die weißen Symbole auf ihrem Gesicht schienen sich im Mondlicht noch heller abzuzeichnen und ihre Züge noch unkenntlicher zu machen. Welche Form hatten ihre Augen in Wirklichkeit? »Du wirst froh sein, wenn du uns alle los bist.«
Sie schüttelte den Kopf. Eigentlich erstaunte es sie selbst, dass sie zusehends die Gesellschaft anderer schätzte, das Gefühl hatte, dazuzugehören und akzeptiert zu werden, Teil eines größeren Ganzen zu sein.
Eine Windbö fuhr durch die hohen Bäume am Ende des Spielfelds und wehte den Duft von Gebratenem sowie Stimmen vom nahe gelegenen Lager zu ihnen herüber. »Ich muss ständig an meinen Sohn denken«, sagte Chac unvermittelt. »Schon als Junge träumte ich davon, einen Sohn zu haben. Ist das nicht merkwürdig? Meinen Vater habe ich niemals kennengelernt, als er starb, war ich noch ein Kind. Vielleicht wollte ich deshalb ein Vater sein. Um zu wissen, wie das ist. Ich freute mich schon darauf, meinem Sohn das Ballspiel beizubringen, ihn zu einem heldenhaften Spieler auszubilden, seinen Namen überall bekanntzumachen. Nur davon habe ich geträumt. Paluma war dabei, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Aber das ist ja jetzt vorbei.«
Mit dunklen Augen sah er sie an. »Es war doch ein Sohn, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Tonina ehrlich.
Er nickte. Dass die Wahrsagerei ein Schwindel war, hatte er vermutet. Bestimmt hatte nicht sie sich das ausgedacht, sondern Einauge, dieser schlaue Fuchs.
Chac ließ erneut den Blick über die Längsseite des riesigen Spielfelds schweifen, so als sähe er alle hier stattgefundenen Turniere vor sich. Ein Grund mehr für Tonina, sich zu fragen, warum er sich nicht den andern angeschlossen und mitgespielt hatte. Sie wusste doch, dass ihm das Ballspiel ebenso viel bedeutete wie ihr das Schwimmen.
»Warum beteiligst du dich nicht am Spiel?«, fragte sie leise. »So wie die anderen?« Sobald die Neun Brüder ein Spielfeld entdeckten, waren sie nicht mehr zu halten, losten die Seiten aus, brüllten und stachelten sich gegenseitig an, rannten wie die Verrückten hin und her, derweil Zuschauer sich am Rand drängten und Wetten abschlossen.
Da Chac nicht antwortete, sagte Tonina: »Wenn ich hier eine große Wasserfläche vor mir sähe, würde ich ohne zu zögern hineinspringen.«
Der Blick, den er ihr zuwarf, war kummervoll und gequält. Tonina hätte ihn gern getröstet und ihm versichert, dass Paluma sofort tot gewesen war. Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber um seine Schmerzen zu lindern, würde sie eine Lüge auf sich nehmen.
»Hast du schon einmal jemanden verloren?«, flüsterte er.
»Ja, das habe ich«, sagte sie nur. Sie sprach weder von ihren Großeltern auf der Perleninsel noch von Macu und Tapferem Adler, geschweige denn von der Familie,
Weitere Kostenlose Bücher