Das Perlenmaedchen
Einauge blieb zurück, half H’meen, die nicht größer war als er selbst und deren Transportkorb allmählich ihre Schenkel aufscheuerte, vom Rücken ihres Trägers herunter und passte auf, dass Poki sich nicht zu weit entfernte. Dreimal schon war das zutrauliche Hündchen mit Giftschlangen in Berührung gekommen und hatte nur knapp überlebt.
Als Chac und Tonina bei Haarlos anlangten, der nicht allzu weit entfernt auf dem Pfad innegehalten hatte, deutete dieser auf einen hohen Strauch. »Hier!«, rief er. »Bei den Göttern! Das ist sie!«
Toninas Schultern sackten nach unten. »Das ist eine Fuchsie«, sagte sie. »Sie wächst auch auf der Perleninsel.«
»Aber sie deckt sich mit deiner Beschreibung.«
»Die Blütenblätter sind anders geformt und außerdem zu lang. Jedenfalls ist das nicht die Blume, die ich suche.« Sie dankte Haarlos, bedachte ihn mit einem Lächeln und kehrte zur Gruppe zurück.
Dass sie enttäuscht war, ließ sie sich nicht anmerken. Zweiundvierzig Tage hatten sie benötigt, um die Region Copán zu erreichen. Es war eine beschwerliche Wanderung über Hügel und Täler gewesen, durch mannshohe Farnstauden, vorbei an Schlingpflanzen und über Baumwurzeln, die wie Schlangen aus dem Erdreich drängten. Nur selten fiel ein Sonnenstrahl durch das Laubwerk über ihnen. Und dieses nie endende Grün – noch nie hatte Tonina so viel Grün gesehen. Moos, Flechten, Gras, Laub. Selbst grüne Orchideen und grüne Baumstämme gab es. Papageien in allen Grünschattierungen. Dazu ständig Lärm. Affen mit unglaublich langen Armen schwangen sich von Ast zu Ast und kreischten auf die Eindringlinge hinunter. Baumfrösche und Zikaden wetteiferten darum, die Lautesten zu sein, Schlangen zischelten aus ihren Verstecken. Kakerlaken, die größer als Mäuse waren, huschten ihnen über den Weg, Schmetterlinge so groß wie Fledermäuse stoben von den Bäumen auf – Tonina kam es vor, als präsentierte sich die Natur in ihrer ausuferndsten Form.
So lange schon in dieser wild wuchernden Vegetation unterwegs – und noch immer hatten sie die rote Blume nicht gefunden.
Einen Hoffnungsschimmer hatte es gegeben, einige Tage zuvor, als sie den südöstlichen Rand der Region Quatemalán erreichten, wo die Hügel in eine Küstenebene übergingen und sie auf einen Fluss stießen, der in eine Bucht mündete. Beim Anblick von Kokospalmen, von Sandstränden, von Hütten, die wie die auf der Perleninsel mit Stroh gedeckt waren, sowie der vielen Kanus, die den Fluss hinauf und hinunter zogen, hatte Tonina den Atem angehalten. Und als sich herausstellte, dass viele Bewohner entlang des Flussufers in der Tat von Inseln stammten, hatten sie und Einauge sich endlich einmal wieder nach Herzenslust in ihrer eigenen Sprache unterhalten können und Neuigkeiten von den weiter entfernten Inseln erfahren. Über die Perleninsel war nichts bekannt geworden, schon gar nicht, dass ein Sturmleser im Sterben liege und sein Volk hilflos zurücklasse. Ein Grund für Tonina, wieder Hoffnung zu schöpfen. Und nachdem sie ausgiebig geschwommen war und die Luft geatmet hatte, die vom nahen Meer herüberwehte, war sie wieder zu der Gruppe zurückgekehrt, die unter Chacs Führung zu einem See zog. Dort wurden sie per Boot übergesetzt und landeten in dem Gebiet, das offiziell als die Region Copán bezeichnet wurde – die südöstliche Einflussgrenze der Maya – und eines fernen Tages Honduras genannt werden sollte.
Von dort aus waren sie durch dichten Flachlanddschungel gezogen, der, je höher sie stiegen, allmählich in Kiefernwald überging, durchsetzt mit dicht an dicht wachsenden Mimosenbüschen, deren intensiver Duft einem zu Kopf stieg. Sie hatten einen weiteren Fluss überquert und waren auf kleine Siedlungen, bestehend aus Pfahl- oder Strohhütten, getroffen, wo man sie mit Tortillas, schwarzen Bohnen und mit Knoblauch gewürztem Leguanfleisch bewirtete. Daneben ging die Gruppe selbst auf die Jagd, mit Schlingen und Fallen sowie mit Blasrohren, für die harte kleine Tonkugeln verwendet wurden. Auf diese Weise gab es abends genügend Fleisch für ein sättigendes Mahl. Morgens verfolgten sie Tukanschwärme, die sich bei Tagesanbruch, auf der Suche nach Früchten, aus den Bäumen erhoben.
Die große Wandergruppe hatte sich immer wieder verändert. Vier Babys waren geboren worden, sechs Personen mittlerweile gestorben, darunter auch die Frau von Haarlos. Einige, die von Anfang an dabei gewesen waren, hatten sich in beschaulichen Dörfern
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