Das Perlenmaedchen
Schutthaufen und die Reste von Statuen.
»Tausend Jahre lang lebten dort bedeutende Könige«, sagte Häuptling Ozelot. »Und angeblich zweimal dreizehntausend Menschen. Nachdem der letzte König aus Gründen, die nur den Ahnen bekannt sind, die letzte Steinstele errichten ließ, stellte dieses großartige Volk selbst keine weitere mehr auf.«
Chac schaute nachdenklich auf die Ruinen, die vom gierigen Dschungel verschlungen worden waren. Hunderte von Jahren musste es her sein, dass der letzte Bewohner von Copán der Stadt den Rücken gekehrt hatte. Ohne den Grund dafür aufzuzeichnen.
Tonina blickte auf den breiten Fluss, der sie von Copán trennte. »Gibt es keinen Zugang zur Stadt?«, fragte sie, schon weil sich ihrer Meinung nach eine seltene Blume durchaus in diesen Ruinen ungestört entfalten konnte.
»Flussaufwärts befindet sich noch eine alte Hängebrücke. Aber die Stadt ist mit einem Tabu belegt. Die Götter erlauben uns nicht, sie zu betreten. Doch jetzt kommt und genießt unsere Gastfreundschaft! Wir wissen schließlich, was sich geziemt.«
Als Chac und Tonina die geräumige Hütte von Ozelot betraten, erschraken sie. Sie schritten über ein menschliches Gesicht!
Der Häuptling warf sich in die Brust. »Dreißig Männer waren nötig, um diesen Stein aus den Ruinen herzuschleppen. Wer immer darauf abgebildet ist, ob Gott oder König« – er deutete auf den behauenen Stein mit dem starren Blick –, »sein Geist wacht über mein Haus.«
Die grauhaarige Frau war, wie sich herausstellte, Ozelots Frau. Ihren kräftigen Körper kaschierte ein langes Baumwollgewand, und um den Hals trug sie mehrere Perlenketten. Obwohl sie eine Maya war und ihr zurückgekämmtes Haar den traditionellen langen Schwanz aufwies, war ihre Stirn nicht fliehend. Sie hatte Glubschaugen, und ihr Kopf saß auf einem Kropf von der Größe einer Melone. Derweil ihr Ehemann sich entfernte, um Vorbereitungen für ein Festmahl zu treffen, wies sie auf eine breite Matte auf dem Fußboden und sagte lächelnd: »Hier schlafen unsere Gäste. Ihr werdet es bequem haben.«
»Wir schlafen zusammen?«, fragte Tonina argwöhnisch.
Die Frau des Häuptlings sah sie verständnislos an. »Wir sind nicht verheiratet«, beeilte sich Chac zur Erklärung hinzuzufügen.
Die Frau musterte die beiden eingehend, und ihre Mimik verriet, was Chac und Tonina bereits oft bei denen gesehen hatten, die ihnen auf ihrer Wanderung begegnet waren: das Hin- und Herüberlegen, welchem Stamm diese beiden wohl angehörten, die ungeachtet ihres Körperschmucks und der Kleidung eindeutig weder Maya noch Inselbewohner waren. Zudem waren beide ungewöhnlich groß. Er sah aus wie einer aus dem Norden, konnte ein Mixteke sein. Das Mädchen war wegen ihrer Gesichtsbemalung schon schwieriger einzuordnen. Immerhin sahen sie sich so ähnlich, dass sie zusammengehören mussten.
Es hatte eine Zeit gegeben, da Chac mit Freuden die Einladung angenommen hätte, in einem Haus und noch dazu auf einer bequemen Schlafmatte zu übernachten. Jetzt aber sagte er: »Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Ehrwürdige Mutter, aber ich bin gewohnt, mein Lager im Freien aufzuschlagen.«
Tonina dachte an die erste Nacht auf ihrer Reise zurück. Damals hatte Chac nicht einmal gewusst, wie man ein Feuer entfacht. Inzwischen war er mit dem Leben in freier Wildbahn vertraut und nicht länger ein auf Diener angewiesener verweichlichter Städter.
Jetzt ging er daran, an der Südwand der geräumigen Hütte des Häuptlings ein kleines Lager für sich einzurichten, während seine Leute sich zwischen Hütten und Feldern niederließen, Feuerstellen bauten und Schlafmatten ausbreiteten. Im Verlauf ihrer Wanderschaft hatte diese bunt gemischte Menschenmenge zu einer geordneten Einheit gefunden, hatten Handwerker und andere Berufszweige sich instinktiv zusammengeschlossen. Sobald ein Lager errichtet war, griffen die Arbeiter zu ihren Webstühlen, ihren Schnitzwerkzeugen, zu Tonerde und Farben, Federn und Schnüren und machten sich daran, Waren zu fertigen, die sie dann gegen das eintauschten, was andere auf der Jagd erlegt oder an Nahrung gesammelt hatten.
Obwohl Chac bereits seit so vielen Tagen schon mit ihnen zusammen war und obwohl sie ihm, ihrem Anführer, ihre Meinungsverschiedenheiten vortrugen, ihre Klagen und Nöte, fühlte er sich nicht als Teil von ihnen. Er fühlte sich niemandem und nirgendwo zugehörig. Jetzt, da er bereits so lange Mayapán verlassen hatte, spürte er eine zunehmende
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