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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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niedergelassen, andere deren Platz eingenommen. Viele der Maya waren umgekehrt, Inselbewohner und Angehörige anderer Stämme hinzugekommen. Hochzeiten waren gefeiert, Scheidungen ausgesprochen worden. Familien waren zerbrochen, neue Familien hatten sich gebildet. Chac hatte über sechs Diebe zu Gericht gesessen, über einen Vergewaltiger, drei Ehebrecher, über fünf, die ihre Frauen geschlagen, über vier, die beim Glücksspiel betrogen hatten, über einen, der des Mordes und zwei, die der Gotteslästerung bezichtigt wurden. Er hatte Strafen ausgesprochen, und H’meen hatte alles fein säuberlich notiert, auch neue Gesetze der immer länger werdenden Liste hinzugefügt.
    Haarlos, der behaarte Riese, war inzwischen Witwer.
    Nach dem Tod seiner Frau wurde Haarlos einer von Toninas eifrigsten Blumensuchern, eine Beschäftigung, die offenbar Balsam für seinen Kummer war. Jetzt entschuldigte er sich vielmals, einmal mehr falsche Hoffnungen geweckt zu haben. Und Tonina tätschelte einmal mehr seinen behaarten Arm und lobte ihn für seinen Einsatz.
    Chac schulterte erneut seinen Reisesack und gab das Zeichen zum Aufbruch. Nun ging es endlich bergab, durch Laub und Ranken und vorbei an blühenden Orchideen und geschwätzigen Affen, in Erwartung der ersten Hinweise auf die große Stadt, von der der Nachrichtenübermittler in Tikal gesprochen hatte. Chac war ebenso erschöpft wie die, die ihm folgten – mehr als hundert Männer, Frauen und Kinder, die Mühsalen erdulden mussten, die sie weder vorausgesehen noch sich hatten vorstellen können. Aber er gab nicht auf. Der Bote hatte versichert, dass die rote Blume in diesen Wäldern wuchs. Und Chac wollte sie unbedingt finden.
    Für Tonina, die unbeirrt neben ihm ausschritt. Ihre Willenskraft und Entschlossenheit waren beispielhaft. Was er einstmals für Halsstarrigkeit gehalten hatte, sah er jetzt als Hingabe an, und was ihn einstmals gestört hatte, bewunderte er jetzt im Stillen. Wie erfüllt ihr ganz privates Leben wohl war? Einauge hatte ihn über die Bedeutung des Gürtels aus den Gehäusen von Kaurischnecken, den sie trug, aufgeklärt. Demnach war Tonina noch nie mit einem Mann zusammengewesen. Wartete etwa auf der Perleninsel jemand auf sie? War sie jemandem versprochen oder war sie frei … ?
    Tonina, die an Chacs Seite mit ihrem Messer auf Ranken und wucherndes Grün einschlug, um sich einen Weg zu bahnen, versuchte, ihre Enttäuschung über die Fuchsie hinunterzuschlucken. Warum schöpfte sie immer wieder neue Hoffnung, wenn jemand meldete, er habe die rote Blume entdeckt? Ganz einfach – es entsprach ihrem Naturell. Eigenartigerweise aber mischte sich in diese Enttäuschungen eine ganz andere Hoffnung, die sie seit der Nacht beflügelte, da sie mit Chac im Mondlicht auf dem Ballspielfeld in Tikal gestanden hatte. Seine Worte hatten sie in dem Wunsch bestärkt, unbedingt ihre Mutter ausfindig zu machen. Mit dieser neuen Zielsetzung ging ein nie gekanntes Gefühl einher, eine Vorahnung, dass sie, wenn sie mit der roten Blume auf die Perleninsel zurückkehrte, nicht mehr zu den Menschen dort gehören würde. Deshalb war es wohl besser, wenn sie Guama die heilbringende Blume überbrachte und dann in einem Kanu die Insel für immer verließ. Nur: Wohin sollte sie dann fahren? Sie hatte doch keine Ahnung, wo sie in dieser großen Welt hingehörte.
    Seit sie ernsthaft darüber nachdachte, ihre Mutter und womöglich ihr eigenes Volk zu suchen, richtete Tonina verstärkt den Blick auf Menschen, die keine Mayas waren. Jeden, dem sie begegnete, musterte sie ganz genau und fragte sich dann: Sehe ich auch so aus? Sie fragte sich, ob ihre Mutter überhaupt noch am Leben war. Hatten sich vielleicht ihre Wege bereits auf einem belebten Marktplatz gekreuzt? Hatte Tonina der Frau, die sie geboren hatte, Chilis abgekauft?
    Und all dies nur, weil Chac gesagt hatte: »Du musst deine Mutter suchen.« Fünf schlichte Worte und dennoch ein Geschenk, das kostbarer war als Halsketten und Armbänder aus Jade und Gold.
    Wie sehr hatte Chac sich in diesen Wochen der Reise geändert. Ihm, der bisher ein behütetes Leben geführt hatte, waren die Sorgen anderer einfach nicht bewusst gewesen. Mittlerweile aber war es so, dass Chac sich um die Nöte anderer kümmerte, wann immer er sie bemerkte.
    Aus dem Dunst, der den Pfad einhüllte, tauchte unvermittelt der Schatten eines Mannes auf. Chac hieß seine Leute stehen zu bleiben. Als er den schweigsamen Wächter einer Musterung unterzog, stellte

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