Das Perlenmaedchen
Korridor in die Vergangenheit, auf der Suche nach dem kleinen Jungen, der noch nicht zum Maya geworden war. »Wie er lautete, weiß ich nicht mehr. Als ich zu trainieren anfing, war ich einfach ›der Junge‹. Meinen Namen Chac Kaan bekam ich erst, nachdem ich ein paar Spiele gewonnen hatte.«
Er schob seinen Umhang beiseite und deutete auf ein Mal an der linken Seite seiner Brust, oberhalb des Herzens. Tonina hatte es für eine Narbe gehalten. »Diese Tätowierung erhielt ich als kleiner Junge, inzwischen ist sie verwachsen und nicht mehr zu erkennen. Ich glaube, sie steht für den Stamm meiner Mutter.«
Tonina berührte die Tätowierung ganz leicht, nur mit den Fingerspitzen.
»Wie lautet der Name dieses Stammes?«
»Das weiß ich nicht mehr«, flüsterte Chac mit stockendem Atem. Ein sinnliches Verlangen überfiel ihn so unerwartet und überwältigend, dass er sich von Tonina abwandte und zum Vollmond hochblickte, der gerade hinter den Zedern verschwand. »Wir sollten zum Lager zurückgehen.«
Als er ihr beim Aufstehen half, sagte Tonina: »Chac, du solltest dich deiner Herkunft nicht schämen.« Sie reckte ihm ihr Gesicht entgegen. »Du bist einer der Glücklichen. Du gehörst einem Volk an, auf das du stolz sein kannst. Ich dagegen habe niemanden. Du drängst mich, meine Mutter zu suchen. Aber davor habe ich Angst. Es muss einen Grund gegeben haben, mich auf dem Meer auszusetzen. Sollte ich geopfert werden? Und wenn ich mein Volk wiederfinden sollte – werden sie mich dann abermals opfern?«
Chac packte sie an den Armen und sagte unerwartet leidenschaftlich: »Und was wäre, wenn du ihnen weggenommen wurdest? Von brutalen Männern deiner Mutter entrissen und unerreichbar für sie auf dem Meer ausgesetzt wurdest? Wenn sie hilflos mit ansehen musste, wie du von der Strömung weggetragen wurdest? Wenn sie seither um dich trauert? Tonina, ganz gleich, wie ich zu meinem wahren Volk stehe, auch wenn ich mich dafür schäme – meine Mutter halte ich hoch in Ehren.«
»Warum dann … «, hob sie an, biss sich aber gleich auf die Lippen. Das ging sie nichts an.
»Warum ich zulasse, dass sie in der königlichen Küche schuftet, während ich ein luxuriöses Leben führe? Tonina, das wollte ich gar nicht! Ich habe sie gebeten, unser Leben zu teilen, ich wollte ihr eine eigene Villa einrichten, Diener beschaffen. Aber meine Mutter ist stolz darauf, Festmahle für den König vorzubereiten. Tonina, eine Mutter soll man verehren. Sie ist ein Teil von dir. Du hast die ersten Monate deines Lebens in ihrem Leib verbracht. Ihr Blut, ihr Atem haben dich genährt. Du hast zum Rhythmus ihres Herzschlags geschlummert. Und als du geboren wurdest, hat sie dich mit ihrer Liebe umgeben. Deshalb musst du unbedingt nach ihr suchen, ganz gleich wo sie ist oder was sie getan hat.«
Von seinen Worten mitgerissen, überkam Tonina plötzlich eine Vision: Sie sah sich einen Pfad entlang auf eine Hütte zulaufen, eine Frau stand vor der Tür, mit ausgestreckten Armen und Tränen in den Augen. Einzelheiten waren nicht klar zu erkennen. Was für Kleider? Schmuck? Wie trug die Frau ihr Haar? In welcher Sprache redete sie?
Angesichts der Perspektiven, die Chac ihr so unerwartet eröffnete, wurde Tonina regelrecht schwindlig. Es schien ihr, als wären all ihre Hoffnungen und Träume in einem Tontopf versiegelt gewesen und Chac hätte jetzt das Siegel gebrochen und den Inhalt des Topfes ausgebreitet. Gleich Schmetterlingen flatterte alles um sie herum; Tonina wollte danach greifen, alles einfangen und an sich drücken.
Ja, sagte sie sich freudig erregt, ja, ich werde meine Mutter ausfindig machen.
Sie sah Chac mit glitzernden Augen an, aber sie wagte es nicht, ihn zu umarmen.
38
»Die Blume! Ich habe sie gefunden!«
Chac blieb stehen, schaute Tonina an. War das Haarlos, den sie da vorne hatten rufen hören?
»Kommt her! Schnell! Hier ist sie!«
Chac und Tonina ließen ihre schweren Säcke fallen und rannten den Bergpfad entlang. Einauge, der ein paar Schritte hinter ihnen ging, stellte ebenfalls seinen Sack ab. Sie waren die Einzigen, die diesmal auf den Ruf von Haarlos reagierten. Alle anderen waren es leid, schon wieder wegen einer angeblichen Entdeckung der vermaledeiten roten Blüte aus dem Häuschen zu geraten; lieber nutzten sie die Gelegenheit, eine kleine Pause einzulegen, sich im Dschungel ein Plätzchen für ihre Notdurft zu suchen, Babys zu stillen oder sich über ihr schweres Los zu beklagen. Das Übliche eben.
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