Das Perlenmaedchen
zu dem Ergebnis, wann der beste Zeitpunkt für Chac war, nach Teotihuacán aufzubrechen. »Euch bleiben noch hundertdreizehn Tage, um die Stadt der Götter zu erreichen.«
»Kennt Ihr den besten Weg?«, fragte Chac. »Soll ich erst zurück nach Tikal und von dort nach Westen abbiegen?«
»Darf ich einen Blick auf Eure Karte werfen?« Die Fünfzehnjährige streckte eine Hand aus, die eher der einer Großmutter entsprach, mit verdickten Knöcheln und hervortretenden Venen.
Chac holte aus seinem Reisesack das Papier, das er in Mayapán erstanden und auf dem ihm, dem des Lesens Unkundigen, der Verkäufer die darauf abgebildeten Zeichen erklärt hatte. Sicherheitshalber hatte Chac Einauge die Karte gezeigt, und der vielgereiste Zwerg hatte die Aussage des Verkäufers bestätigt. Mayapán im Norden, Tikal genau im Süden, Palenque im Westen und Teotihuacán nordwestlich davon.
Im flackernden Licht des Lagerfeuers studierte H’meen die Karte, nickte zustimmend, als sie die Beschriftung entlang der Linien las, die die Weißen Straßen darstellten. Ihr Blick glitt über die Strecke Copán–Tikal–Palenque, und gleichzeitig überschlug sie, wie viele Tage man von Punkt zu Punkt und dann insgesamt benötigte. Und erstarrte. Lange sagte sie nichts, ihr Schweigen zog sich hin, nach und nach wich alle Farbe aus ihrem Gesicht.
»Was ist denn?«, fragte Chac besorgt.
»Ist dies die Karte, der Ihr von Mayapán aus gefolgt seid?« Ihr Blick, der Tonfall ihrer Stimme ließen den anderen das Blut gerinnen.
»Ja«, entgegnete Chac. »Warum? Ich werde doch rechtzeitig in Teotihuacán sein – oder etwa nicht?«
Sie hielt ihm die Karte unter die Nase. »Nach den Angaben neben den Weißen Straßen dauert es sechzig Tage bis zu diesem Punkt«, sagte sie und deutete mit dem Finger auf das Zeichen für Teotihuacán. »Allerdings, Edler Chac, ist das nicht das Zeichen für die Stadt Teotihuacán. Hier beginnt vielmehr die Einhundert-Tage-Straße nach Teotihuacán.«
Seine buschigen schwarzen Brauen schoben sich zusammen. »Seid Ihr sicher?«
»Absolut. Ihr habt die Karte falsch gedeutet. Dieses Symbol steht nicht für die Stadt der Götter, sondern für den Beginn der Straße. Von dort aus sind es noch hundert Tage bis Teotihuacán.«
Sie sah ihn bekümmert an. »Ihr könnt es nicht mehr rechtzeitig schaffen.«
Häuptling Ozelot stand an der offenen Tür seiner geräumigen Hütte und ließ die Gruppe, die da über Bücher und Landkarten gebeugt beieinandersaß, nicht aus den Augen. Leuten, die lesen konnten, begegnete er mit Misstrauen. Sie hatten Geheimnisse. Und jetzt beratschlagten sie über Chacs Aufbruch. Ozelot war keineswegs begeistert.
Vor zwei Monaten hatte ihm seine Frau ausgeredet, Chac zu vergiften. Sie hatte von der heilbringenden Blume erfahren und gehofft, durch sie ihren Kropf loszuwerden. Aber niemand hatte die Blume gefunden, und Ozelot war mit seiner Geduld am Ende. Er wollte nicht, dass all diese Leute abzogen. Er wollte ihr Häuptling sein, und sie sollten ihm ein angenehmes Leben sichern.
Er sah zum bewölkten Himmel empor. Eigenartig. Trotz der trockenen Jahreszeit lag Regen in der Luft. Ein böses Omen. Es war Zeit zu handeln. Er rührte giftigen Zinnober in einen Becher pulque. »Bring das hier Chac«, wies er seine Frau an.
Chac war über das, was H’meen ihm soeben eröffnet hatte, derart vor den Kopf geschlagen, dass er ohne zu überlegen den Becher entgegennahm. »Trinkt aus, Edler Chac. Das wird Euch warmhalten«, sagte die Häuptlingsfrau. Als sie zurück zu ihrem Mann eilte, spürte sie auf ihren nackten Armen die ersten Regentropfen.
Mit gerunzelter Stirn sah Chac auf die Karte, dann zu H’meen. Er musste sich verhört haben. »Seid Ihr sicher?«, wiederholte er und setzte den Becher an die Lippen. »Hundertdreizehn Tage, das dürfte doch Zeit genug sein.«
»Genug Zeit bis zu dem Punkt, wo die Straße beginnt«, sagte H’meen. »Selbst wenn Ihr schnell vorankommt, braucht Ihr sechzig Tage. Und von dort aus, Chac, weitere hundert bis Teotihuacán.«
Der Becher verharrte an seinem Mund, der berauschende Duft stieg ihm in die Nase. Doch H’meens Nachricht hatte ihn völlig durcheinandergebracht. Ungeduldig wollte er den Becher absetzen, aber er entglitt ihm, und sein Inhalt versickerte im Sandboden der Hütte. »Ihr meint also, ich kann keinesfalls rechtzeitig in Teotihuacán sein?«
»So ist es, leider.« H’meen war tief betroffen. Warum hatte sie nicht längst einen Blick auf seine
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