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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Einauges Seite. »O ja«, sagte sie zu Chac. »Das sind Spuren von Jaguarpranken.«
    »Könnt Ihr ihn retten?«, fragte Chac.
    Mit Tränen in den Augen schaute sie zu ihm auf. »Der Wille der Götter … «, hauchte sie.

    Der Himmel gab sich rätselhaft.
    Eigenartig, dass er sich in der trockenen Jahreszeit so bewölkt und trüb zeigte, dass die Luft knackig frisch war und der Wind von Nordosten kam und Regen verhieß. Die Grashütte, in der sich die kleine Gruppe, ihre Umhänge fest um sich gezogen, um das Feuer drängte und darauf wartete, dass H’meen zum Ende ihrer astronomischen Berechnungen kam, bot nur unzureichenden Schutz gegen die Witterung.
    Zwei Mondzyklen waren vergangen, und noch immer war im Umkreis der alten Stadt Copán die rote Blume nicht gesichtet worden. Deshalb hatte Tonina beschlossen, so schnell wie möglich nach Norden zu ziehen und dort die Suche fortzusetzen. In zwei Monaten brach auf den Inseln die stürmische Jahreszeit an.
    Sie hatte Chac erklärt, dass er ihr gegenüber zu nichts mehr verpflichtet und somit frei wäre. Wenngleich zögernd, hatte er ihr zugestimmt. Für ihn war es unausweichlich an der Zeit, umzukehren und sich nach Teotihuacán zu begeben.
    Aller Augen waren auf die über ihre Bücher gebeugte H’meen gerichtet. Einauge hielt seinen Umhang am Hals fest zusammen, musste dabei unwillkürlich daran denken, dass dieser Umhang ihn vor nicht allzu langer Zeit fast erwürgt hätte – als Balám ihn am Hals gepackt und gegen einen Baum geschleudert hatte. H’meen hatte den Zwerg gesund gepflegt. Sie hatte seine Knochen eingerenkt und geschient und seine Wunden genäht, war Tag und Nacht bei ihm geblieben, hatte heilbringende Symbole auf seinen zerschundenen Körper gemalt, ihm zauberkräftige Amulette aufgelegt; über ihn gebeugt hatte sie gesungen, ihm geheiligte Zaubersprüche ins Ohr geraunt und so nach und nach die Geister der Schmerzen und Infektion dazu bewogen, von diesem gepeinigten Körper abzulassen.
    Sie hatte bei ihm geschlafen, ihn gewärmt, beweint und seinen Geist gebeten, zu ihm zurückzukehren. Niemand wusste, dass die Wunden auf seinem Gesicht und seiner Brust nicht von den Pranken einer Raubkatze herrührten. Niemand wusste um das furchtbare Geheimnis, das ihn marterte – dass diese Reise in das entlegene Copán umsonst gewesen war. Einauge, einstmals so gewitzt und friedfertig, war jetzt ebenso düster gestimmt wie die unheilverkündenden Wolken am Himmel. Weil er nicht verraten durfte, dass die rote Blume mitnichten in dieser Gegend wuchs. Weil er jeden Tag stillschweigend mit ansehen musste, wie die Suchtrupps ausschwärmten und mit leeren Händen zurückkamen. Weil Balám Tonina zu Tode foltern würde, wenn er, Einauge, mit seinem Wissen herausrückte.
    Er hatte darüber nachgegrübelt, welche Gründe Balám haben mochte, Chac so weit wie möglich von Teotihuacán wegzulocken, und warum er den Nachrichtenboten bestochen hatte, damit der Lügen über die rote Blume erzählte. Aber ihm war keine Antwort eingefallen, während er mit den Schmerzen kämpfte.
    Er wünschte sich, Balám hätte ihn damals, vor genau zwei Monaten, getötet. Jetzt schalt er sich einen Feigling, der es nicht über sich brachte, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Völlig am Boden zerstört hockte er da. Der Traum war ausgeträumt. Die Lahmen, die Kranken, alle, die einst eine Hoffnung genährt hatten, warteten gespannt auf den Urteilsspruch der h’meen: auf den günstigsten Tag, um den Heimweg anzutreten.
    Tonina bewunderte die Fünfzehnjährige, die ihre komplizierten Berechnungen zu Ende brachte. Inselbewohner richteten sich nach einem einzigen Kalender, demzufolge ein Jahr 365 Tage umfasste – von einer stürmischen Jahreszeit bis zur nächsten. Die Maya hielten sich ebenfalls an das Sonnenjahr, aber auch an weitere Kalender. Für Tonina war es unverständlich, dass ein Jahr lediglich 260 Tage umfassen sollte – Einauge hatte ihr einmal erklärt, dass dies mit dem Zyklus des Morgensterns zu tun habe –, aber nach diesem Kalender schienen sie sich hauptsächlich zu richten. Mit zwei zusätzlichen Jahreszyklen sowie Monaten von jeweils zwanzig Tagen, die nichts mit dem Mondzyklus zu tun hatten, war die bei den Maya übliche Berechnung der Zeit wahrlich verwirrend.
    H’meen indes schien keine Schwierigkeiten damit zu haben. Sie orientierte sich anhand ihrer Bücher und Tabellen, notierte den augenblicklichen Stand des Mondes, der Sonne und der Planeten und kam schließlich

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