Das Perlenmaedchen
der einzelnen Steinmauer zuwandte, dem Einzigen, was von seiner Hütte noch stand, fielen ihm kleinere Steinquader in der verbotenen Stadt ein, aus denen man Wände hochziehen konnte, die Wind und Wetter trotzten …
Während der Vorbereitungen zum Aufbruch in Richtung Westen schlug Chacs Herz höher – immerhin bestand Hoffnung, dass mit Hilfe der Göttin Palumas Seele wieder auferstehen würde. Wenn nur Balám ihm nicht zuvorkam!
Tonina war damit beschäftigt, ihr Gesicht zu bemalen. Sorgfältig trug sie die Symbole der Inselvölker auf Wangen, Kinn, Stirn und Arme auf. Erst wenn sie wusste, wer sie wirklich war, würde sie für immer darauf verzichten.
Ich bin über die verlassenen Straßen alter Städte gegangen, überlegte sie, ich habe auf Farmen und in den Hütten von Menschen geschlafen, die nicht meinem Volk angehören. Ich denke an die Insel, auf der ich gelebt habe, von der ich aber nicht stamme. Seit dem Tag, da ich in einem Korb auf dem Meer ausgesetzt wurde, bin ich allein. Ich weiß nicht, wer ich bin und wohin ich gehöre. Möglich, dass ich das nie erfahren werde, nie erfahren soll. Dennoch werde ich mich auf die Suche begeben, auch wenn diese Suche ein Leben lang dauert.
Sie griff nach ihrem Reisesack und ihrem Speer und nahm ihren Platz neben Chac ein, wandte sich ein letztes Mal in Richtung Meer und nahm wortlos Abschied von Guama und Huracan und der Perleninsel.
Dann richtete sie den Blick nach Westen und schritt ihrem neuen und unbekannten Schicksal entgegen.
DRITTES BUCH
42
»Kümmert Euch nicht um mich, Herr!«, schrie Haarlos. »Bringt Euch in Sicherheit! Und findet die Göttin.«
Er steckte bis zur Mitte im Schlamm. Vom Ufer aus bemühte man sich nach Kräften, ihm Stricke zuzuwerfen.
Ohne auf das Flehen des Freundes zu achten, erteilte Chac weiterhin hastige Befehle zu dessen Rettung. Auch wenn die Zeit drängte und Balám aufgespürt werden musste, dachte er nicht daran, den Mann zurückzulassen.
Sie hatten endlich das Gebiet um die sagenumwobene Stadt Palenque erreicht und suchten seit Tagen nach der erdengefangenen Göttin, die sich nach Auskünften von Einheimischen irgendwo hier befinden sollte, deren genauen Aufenthaltsort aber niemand kannte. Ohne den Stein, den Balám gestohlen hatte, war sie unmöglich ausfindig zu machen.
»Da! Fang!«, brüllte Chac und schleuderte ein mit einem Stein beschwertes Seil in Richtung Haarlos. Es landete auf der Oberfläche des Morasts, nahe genug, dass Haarlos es packen und festhalten konnte. Jetzt schlang sich Chac das andere Ende des Seils um die Mitte und fing, die Fersen in den feuchten Untergrund gestemmt, an zu ziehen. Im Stillen dankte er den Göttern, dass es noch früh am Morgen war; zu einem späteren Zeitpunkt wäre eine Rettung ausgeschlossen.
Sie waren durch das alte Yaxchilán gezogen, als die trockene Jahreszeit geendet und die Regenzeit eingesetzt hatte. Morgens war es zwar trocken und sonnig, aber nachmittags gingen heftige Regenschauer nieder. Wäre der Unfall nicht morgens passiert, wäre Haarlos zweifellos von den ungeheuren Schlammmassen mitgerissen worden.
Seit Yaxchilán, wo sie neben wasserdichten Umhängen – die aus mit Gummi beschichteter Baumwolle gefertigt und entsprechend schwer und sperrig waren, aber trocken hielten – auch Strohhüte erstanden hatten, deren breite Krempe die Schultern zusätzlich vor Nässe schützten, waren Chacs Leute immer wieder unbarmherzigen Regengüssen ausgesetzt gewesen; sie waren durch wadentiefen Morast gewatet und hatten die unbarmherzige schwülfeuchte Hitze ertragen, die Moskitoschwärme und riesigen Beißfliegen. Und dann waren sie in diesen Sumpf geraten.
Vom Rande des Moores aus, in sicherer Entfernung des tödlichen Sumpfs, beobachtete Einauge die Rettungsaktion und vor allem Tonina, die, ebenfalls die Füße in den Boden gestemmt, zusammen mit Chac an dem Seil zog. An Kräften konnte sie es mit jedem Mann aufnehmen.
Wie stark sie war, dachte Einauge voller Bewunderung für ihre Kraft und ihren drahtigen Körper. Er war mehr denn je in sie verliebt, auch wenn seine Gefühle für sie vergeblicher denn je waren. Ob sie merkte, wie sehr sie sich inzwischen verändert hatte? Als Einauge sie kennengelernt hatte, hatte Tonina sich als Außenseiterin bezeichnet, die gern für sich blieb. Auch Chac hatte betont, er müsse allein sein. Zu Beginn der Wanderung hatte sich jeder der beiden ein eigenes Lager eingerichtet und sich von allen anderen ferngehalten. Inzwischen, auf
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