Das Perlenmaedchen
der mühsamen Strecke von Copán nach Palenque, gingen Chac und Tonina jeweils abends durch das große Lager, sprachen mit den Leuten und hörten sich ihre Nöte und Sorgen an. Waren sie sich bewusst, überlegte der scharf beobachtende Zwerg, dass die beiden, die stets behauptet hatten, allein zu sein, jetzt Teil eines großen Ganzen waren?
Er wurde abgelenkt, als eine Frau versuchte, in den Sumpf hinauszulaufen. Es handelte sich um die Mutter des Kindes, das das Unglück verursacht hatte. Der kleine Junge hatte sich selbständig gemacht, und Haarlos hatte ihn entdeckt, hilflos im Morast steckend, hatte versucht, ihn zu retten, aber vergeblich; das Kind war in die Tiefe gezogen worden. Und jetzt saß Haarlos seinerseits fest.
»Zieht!«, rief Chac, und ächzend und keuchend mühten sich Männer mit Seilen ab. Nicht weil Haarlos so schwer gewesen wäre, sondern weil der Schlamm ihn nach unten zog. Trotz unmenschlicher Anstrengungen steckte der unglückliche Anführer der Neun Brüder bereits bis zu der Brust im Morast.
»Lasst es gut sein, Herr«, rief er mit letzter Kraft. »Ich bin nicht wichtig. Spürt Prinz Balám auf. Findet die Göttin!«
»Auf keinen Fall das Seil loslassen!«, schrie Chac, als Haarlos sich aufzugeben drohte. »Wenn du das tust, verfluche ich dich in alle Ewigkeit! Ich will mir nicht deinen Tod aufs Gewissen lasten. Mehr Seil! Wir brauchen mehr Seil!«
Tränen rannen Haarlos über das breite Gesicht, und man hörte ihn das Schuldbekenntnis murmeln.
»Chac.« Tonina ließ ihr Seil fallen und holte tief Luft. »So schaffen wir es nicht. Aber sieh mal dorthin!« Sie deutete auf die Kronen der Bäume um sie herum, von denen viele dicht belaubte Äste aufwiesen, andere, höhere dagegen glatte Stämme mit dünner Rinde. »Wenn wir einen von denen fällen und Seile daran befestigen … «
»Bleib hier!«, bellte er. »Sorge dafür, dass die Männer an den Seilen bleiben. Ihr da! Ihr mit den Äxten, kommt mit!«
Bald darauf hallte der Regenwald vom Geräusch von Steinklingen an Holz wider. Sechs Männer gingen einem mächtigen Stamm zuleibe, bis er quer über den braunen Sumpf fiel. Die Arme seitlich ausgebreitet, balancierte Chac darauf entlang. Bei Haarlos angekommen, ging er in die Hocke und rief ihm zu: »Halte dich am Baum fest!«
Haarlos, inzwischen bis zu den Achseln im Morast, rang um Luft. Immerhin war er darauf bedacht gewesen, die Arme hochzuhalten, sodass er jetzt nach dem Baum greifen und ihn mit Chacs Hilfe umfassen konnte. Jetzt schlang Chac die Seile, die man Haarlos zugeworfen hatte, um den Stamm und schrie denen am Ufer zu, mit dem Einholen zu beginnen.
In atemloser Spannung verfolgten alle, wie der gefällte Baum sich langsam drehte und mit Haarlos, bis zu den Schultern mit Schlamm bedeckt und vor Angst, doch noch vom Morast verschluckt zu werden, laut schluchzend, zurück ans Ufer gezogen wurde. Zur Sicherheit packte Chac den Freund am Haarschopf, hielt seinen Kopf aus der braunen Brühe heraus. Haarlos wimmerte zwar heftig, protestierte aber nicht.
»Zieht!«, befahl Chac denen am Ufer.
Sie waren schon dem Rand nahegekommen, als Haarlos verzweifelt aufschrie. Der Schlamm erreichte sein Kinn. Unwillkürlich gelangte dadurch etwas von der braunen Brühe in seinen Mund. Chac sprang vom Baumstamm. Obwohl er bis zu den Schenkeln im Schlamm stand, spürte er festen Boden unter den Füßen. Die Hände unter die Arme des Freundes geschoben, kämpfte er sich unter Aufbietung all seiner Kräfte einen Schritt rückwärts, dann einen weiteren und noch einen, bis beide sich langsam aus dem Sumpf befreiten. Männer rannten hinzu und zogen sie auf sicheren Grund.
Haarlos verlor die Besinnung. Sofort war H’meen mit ihrer medizinischen Ausrüstung zur Stelle.
Chac tauschte mit Tonina einen Blick, der mehr als Worte ausdrückte: wieder ein Leben gerettet, aber ein weiterer Tag verloren. Sie hatten Palenque nicht wie veranschlagt in fünfzig Tagen erreicht, sondern deren sechzig benötigt. Morgen war Sommersonnenwende.
Die Landschaft war durchzogen von Marschen und Sümpfen. Aber es gab auch Tümpel mit klarem Wasser und Flüsse, sodass Chac und Haarlos und alle Helfershelfer sich säubern konnten. Haarlos saß erschöpft am Wasser, während die Mutter, die ihr Kind verloren hatte, mit ihrer Familie trauerte.
Auf dem Weg von Copán hatte sich die Gruppe erneut verändert, nur noch wenige Maya waren dabei. Viele gehörten den unzähligen Stämmen am südwestlichsten Rand unter
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