Das Perlenmaedchen
Maya-Einfluss an. Über all diese Veränderungen führte H’meen genauestens Buch.
Sie vermerkte auch neue Pflanzen, die Tonina auf der unablässigen Suche nach der roten Blume entdeckte. Jetzt, da Tonina sich damit abgefunden hatte, nie wieder auf die Perleninsel zurückzukehren, schritt sie mit neuer Energie und Entschlossenheit aus. Wann immer sie an einem Bauernhof vorbei oder in ein Dorf kamen, unterhielt sie sich mit den Bewohnern, besah sich prüfend deren Textilien und Stickereien, fragte, ob jemand das Muster auf ihrer Decke erkenne.
Dies alles konnten die mit ihr Ziehenden beobachten. Was ihnen entging und was Tonina sorgfältig für sich behielt, war ihre Liebe zu Chac, die zusehends stärker wurde. Sie sehnte sich danach, ihm nahe zu sein. Es war eine Liebe, die sie niemals gestehen oder ausleben konnte, weil der Geist von Paluma zwischen ihnen stand.
Chac, der sich, von der Rettungsaktion noch erschöpft, nach einem reinigenden Bad von der Sonne trocknen ließ, strich sich gedankenlos über die Narbe auf seinem Schenkel. In jenen ersten Tagen, als sie Copán verließen, waren die Schmerzen so heftig gewesen, dass er nur humpelnd vorangekommen war und sie hatten anhalten müssen, damit H’meen die Wunde behandeln konnte. Zu einer Infektion war es zum Glück nicht gekommen. Inzwischen war der Schmerz verflogen, Chac humpelte auch nicht mehr, nur die Narbe zeugte noch von der Nacht, in der er die Ananasverkäufer verteidigt und Tonina in den Armen gehalten hatte.
Chac verbot sich jeden Gedanken an sie. Was wäre, wenn die erdengefangene Göttin ihm Rechenschaft über sein Leben abverlangte? Was wäre, wenn sie ihm wie die Schwesternschaft der Seelen Fragen vorlegte, um zu beurteilen, wie es um sein Herz bestellt war und inwieweit er sich Verdienste erworben hatte? Was wäre, wenn sie fragte: Bist du dem Andenken deiner Ehefrau treu geblieben?
»Herr! Herr!«
Einer der Neun Brüder, der dem Trupp vorausging und das Gebiet auskundschaftete, lief auf ihn zu. »Herr«, raunte er, als er Chac erreichte. »Drei tote Männer! Da vorne!« Er wies in die Richtung, aus der er gekommen war.
Chac bedeutete den anderen, sich ruhig zu verhalten, griff sich seinen Speer und den Knüppel und folgte dem Vorauseilenden. Tonina schloss sich wie selbstverständlich den beiden an.
Auf der anderen Seite des dichten Waldes machten sie an einem Hügel mit üppiger Vegetation eine Höhle aus, vor der drei Männer lagen. Chac hielt inne, schaute sich um, lauschte auf etwaige Geräusche, auf einen Hinterhalt. Schließlich schlich er sich, den Speer gehoben, näher.
Verwunderung machte sich breit, als sie bei den drei Toten anlangten. Die Männer lagen auf dem Rücken, wirkten eher, als ob sie schliefen. Keinerlei Wunden ließen sich erkennen, kein Blut, nichts, was auf einen Kampf hindeutete. Lediglich ihre Kleidung war durchweicht. Erst als Tonina den Schaum auf ihren Lippen bemerkte, begriff sie, dass sie ertrunken waren.
Jetzt drangen Stimmen aus der Höhle, hallten von den Wänden wider. Zwei Männer tauchten auf, schleppten einen weiteren Leichnam ins Freie.
Chac stieß einen Schrei aus. Sie hatten Balám gefunden.
43
»Bruder!«, rief Balám. »Dank sei den Göttern, dass du uns gefunden hast!«
In Chac tobten Erleichterung, Zorn, Freude. »Warum hast du dich wie ein Dieb nachts aus dem Staub gemacht? Warum hast du den Stein mit den Bildzeichen gestohlen?«
»Einen Dieb nennst du mich, Bruder?« Balám gab sich beleidigt. »Hat Häuptling Ozelot dir etwa nicht die Botschaft übermittelt, die ich ihm auftrug?«
»Ich habe keine Botschaft erhalten«, erwiderte Chac missmutig.
»Und ich habe diesem Dummkopf vertraut!« Balám, selbst erstaunt, wie leicht ihm neuerdings Lügen über die Lippen kamen, weidete sich daran, wie Chacs Gesichtsausdruck von Wut in Verblüffung umschlug. Andere zu manipulieren war eine Art von Macht, die Balám neuerdings großes Vergnügen bereitete. »Für dich habe ich das getan! Du warst es, der uns von Mayapán nach Copán geführt und neue Pfade beschritten hat – meine Kameraden und ich brauchten nur zu folgen. Es war für mich an der Zeit, eine Gegenleistung zu erbringen. Dementsprechend habe ich Häuptling Ozelot eine Nachricht für dich hinterlassen und angenommen, ihr würdet nachkommen. Den Göttern sei Dank, dass ihr hier seid!«
Da Chac augenscheinlich noch nicht restlos überzeugt war, fügte Balám rasch hinzu: »Bruder, ich weiß, wo sich die erdengefangene Göttin
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