Das Perlenmaedchen
aufhält!«
Chacs Gesicht hellte sich augenblicklich auf. »Diese Männer«, sagte Balám und wies auf die vier Toten, »haben bei dem Versuch, sie zu retten, ihr Leben hingegeben. Die Göttin lebt in einem unterirdischen Fluss. Um sie herum ist nichts als Wasser, Bruder!«
»Woher wisst Ihr das?«, fragte Tonina und trat vor.
Balám blitzte sie an. Am liebsten wäre er ihr an die Gurgel gesprungen und hätte sie erwürgt. Aber er hatte ja etwas Besonderes mit ihr und Chac vor: Sie sollten ihm als ahnungslose Werkzeuge dienen, um seiner neuen Bestimmung gerecht zu werden.
»Ich habe Erkundigungen eingeholt«, sagte Balám. »Die Maisbauern hier sind ungemein freundlich«, fügte er noch hinzu und dachte an den Mann, den er in Angst und Schrecken versetzt hatte, um den Hinweis auf eine steinerne Stele zu erhalten, uralt und vom Dschungel überwuchert. »Da drüben«, sagte er und wies auf die umgekippte mannsgroße Steinplatte im Buschwerk. »Dem Bauern zufolge heißt es, eine Stele bezeichne das Versteck der Göttin. Also haben wir uns sämtliche Stelen in der Gegend näher angesehen – und das waren nicht wenige, Bruder –, bis wir auf diese da stießen.«
Chac und Tonina sahen, dass ein Stück aus der Stele herausgebrochen worden war. »Siehst du?« Balám fügte den Gesteinsbrocken in die Stele ein. Zu erkennen war jetzt das Bildnis einer Frau auf einem Thron.
Chac sah hinüber zum Eingang der Höhle. »Sie ist irgendwo da drin?«
»Mit Sicherheit, Bruder, aber zu ihr zu gelangen ist nicht einfach.«
Sie betraten die kleine Höhle, durch die sich ein Fluss zog. »Er fließt dort unter dem Hügel hindurch.« Baláms Stimme hallte im Dunkel wider. Kaum dass sie die unter Wasser liegende Öffnung in der Felswand ausmachen konnten. »Meine Männer wollten durch diese Öffnung schwimmen, aber alle vier wurden eingeklemmt. Als wir sie herauszogen, war es leider zu spät.«
Tonina sah, dass sich von der Stelle aus, an der sie standen, Breite und Länge der Öffnung schwer schätzen ließ. Und aus jahrelanger Erfahrung wusste sie, dass Wasser die Wahrnehmung trügen konnte. »Ich werde durchkommen«, sagte sie dennoch.
Über Baláms Gesicht huschte ein verächtlicher Ausdruck, den keiner bemerkte, da aller Augen auf Tonina gerichtet waren. Balám hasste sie mehr denn je. Dieses Mädchen wagte zu behaupten, sie könne etwas tun, wozu seine stärksten und tapfersten Krieger nicht fähig waren!
Chac zögerte einen Moment, dann umfasste er ihre Schultern. »Wenn du in absehbarer Zeit nicht zurück bist, komme ich nach.«
»Du kannst doch nicht schwimmen«, flüsterte sie und sah ihn an.
Der Druck seiner Finger auf ihren Schultern verstärkte sich. »Ich kann, wenn ich muss.«
Er neigte sich zu ihr, und sie glaubte, hoffte, er würde sie küssen, auf der Stelle und ungeachtet der anderen. Gleichzeitig fürchtete sie sich davor. Aber da wich Chac, der nun die Blicke Baláms und der anderen spürte, bereits zurück.
Tonina kniete sich vor dem Fluss nieder.
»Geister der Höhle«, betete sie leise, »ich komme in friedlicher Absicht und habe nichts Böses im Sinn. Ich möchte mit der erdengefangenen Göttin sprechen.« Dann stieg sie in das kühle Nass, ließ sich von der Strömung zu der unter Wasser liegenden Öffnung im Felsen treiben. Dort angekommen, atmete sie mehrfach tief ein, pumpte sich die Lungen mit Luft voll, tauchte unter, tastete sich zu der Öffnung und schwamm hindurch.
Während Chac vom Rande des Flusses aus besorgt auf das dunkle Gewässer starrte, verließ Balám mit seinen Männern die Höhle und schärfte ihnen ein, sich die Göttin zu schnappen, sobald Tonina mit ihr zurückkam. »Tötet, wenn nötig, Chac und das Mädchen, aber die Göttin muss unser sein.«
Durch den unterirdischen Kanal zu schwimmen war etwas ganz anderes als sich in der Lagune der Perleninsel zu tummeln. Noch nie war Tonina unter Wasser von einer derartigen Dunkelheit umgeben gewesen. Sie versuchte, nicht an die Felsen um sie herum zu denken oder dass über ihrem Kopf kein Raum war, um Luft zu holen, und schob sich mit kräftigen, gleichmäßigen Armbewegungen vorwärts, was wegen der immer wieder vorspringenden Felsen und Durchlässe schwierig genug war. Der Tunnel schien kein Ende zu nehmen. Ihre Lungen begannen zu stechen, aber zum Umdrehen war es zu eng und die Strömung zu stark. Würde sie ertrinken?
Wenn du nicht in absehbarer Zeit zurück bist, komme ich nach …
Und unvermittelt war sie durch den Tunnel
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