Das Perlenmaedchen
trieben und die Geräusche des Dschungels anschwollen. Nachtvögel, Affen und Zikaden versuchten, sich einander an Lautstärke zu überbieten, sodass man schließlich auch das Rauschen des Wasserfalls nicht mehr vernahm.
Widersprüchliche Gefühle kämpften in ihr und schließlich sagte sie: »Chac, ich kann nicht mit dir nach Mayapán gehen. Ich bin verpflichtet, mein Volk zu suchen. Als mir dieses Medaillon umgehängt wurde, wusste jemand, dass ich es eines Tages dazu verwenden würde, meinen Weg zurückzufinden. Vielleicht lebt mein Stamm ja hinter dem nächsten Hügel, im nächsten Tal. Ich kann jetzt nicht aufgeben.«
Er umfasste ihre Schultern. »Gut möglich, dass du jahrelang vergeblich nach ihnen suchst«, sagte er heftig. »Tonina, in Mayapán wird man dir helfen können – da gibt es Archivare, Historiker, Kaufleute, die überall im Land herumreisen. Geh mit mir zurück.«
Sie sah ihn flehentlich an. »Ach Chac, kannst du nicht mit mir kommen? Was bringt es denn ein, Rache zu üben?«
»Meine Frau wurde umgebracht, und ihre Mörder laufen frei herum! Ich muss dafür sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Aber gleichzeitig vernahm Chac eine tiefere Wahrheit in seinem Herzen, eine, die er nicht hören wollte. Palenque lag an der westlichsten Grenze des Maya-Reiches. Jenseits davon erstreckte sich ein von Bergen und Seen, Küsten und Tälern durchzogenes Gebiet, dem Vernehmen nach ein endloses Land. Und überall lebten Stämme, die keine Ahnung vom Leben der Maya hatten. Chacs Mutter hatte ihm erklärt, dass er einem dieser Stämme angehöre. Dorthin mit Tonina zu ziehen würde bedeuten, dass er seine Identität als Maya verlor, die einzige Identität, die ihm vertraut war. Er würde feststellen müssen, dass er in Wahrheit einem Volk angehörte, das er zu verachten gelernt hatte.
Was ihn noch mehr zurückschrecken ließ, war der Gedanke, möglicherweise von einem Volk gottloser Barbaren abzustammen. Geh, gab ihm sein Instinkt ein. Verlasse schleunigst diesen Ort und entziehe dich dem Einfluss dieses Mädchens, dann bleibst du weiterhin Chac der Maya-Ballspieler.
Er hielt es aus moralischen Gründen für unerlässlich, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Das wusste Tonina. Das zeichnete ihn aus. In Tikal war sie Zeuge geworden, wie er den Ananasverkäufern zu Hilfe gekommen war. Aber jetzt war sein Trachten nach Gerechtigkeit zugleich sein Schwachpunkt. Es war ein Fluch, der ihn zerstören konnte.
»Ich möchte dir doch nur helfen, Chac«, versuchte sie ihn von seinem Vorhaben abzubringen, schon aus Angst, ihn zu verlieren. »Wie willst du denn die Mörder aufspüren? Und wenn du sie findest, wie willst du ihnen das Verbrechen an Paluma nachweisen? Und selbst wenn dir das gelingen sollte, welche Strafe wirst du ihnen auferlegen? Und wie sie ausführen? Willst du dann zum Mörder werden?«
»Ich habe keine Wahl.« Seine Finger gruben sich in ihre Arme. »Das ist meine Pflicht, Tonina. Das blühende Leben meiner Frau wurde ausgelöscht. Mein Sohn … « Die Adern an seinem Hals traten hervor, als er ein Schluchzen unterdrückte. »Mein kleiner Junge wird niemals auf dem Spielfeld stehen, es ist ihm versagt, aufzuwachsen und sich zu verlieben und zu heiraten und eigene Söhne zu haben … während die, die ihn umgebracht haben, frei herumlaufen.«
Er sah Toninas halb geöffnete feuchte Lippen und wusste, dass er sie ohne Weiteres nehmen und sein brennendes Verlangen stillen konnte. Aber er wollte mit ihr in jeder Beziehung zusammensein, geistig wie körperlich. Außerdem würde das Feuer in ihm, wenn er sich jetzt mit ihr einließ, nicht gelöscht werden. Tonina zu besitzen würde nur die Flammen schüren und ihn lichterloh brennen lassen.
Tonina schaute ihm in die flackernden dunklen Augen. Wenn Chac sie jetzt küsste, nur ihre Lippen leicht berührte, würde sie sich ihm vollends hingeben. Ihr Hunger nach ihm war größer als alles, was sie bisher erlebt hatte, und sobald sie sich ihm hingab, würde sie ihm bis zum Ende der Welt folgen, auch wenn sie dafür ihre eigenen Ziele opfern müsste.
Chac dachte an das, was Tonina ihm mitgeteilt hatte – dass Paluma und ihr gemeinsamer Sohn gerettet waren. Doch die Freude darüber hatte sich abrupt verdunkelt. Lange sah er das Mädchen an. »Es ist mir klar geworden«, sagte er gepresst und umspannte, sein Gesicht dicht an ihrem, ihre Arme, »dass es mir nicht zusteht, dich zu lieben. Freude ist mir nicht vergönnt. Das ist der Wille
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