Das Perlenmaedchen
der Götter. In jener Nacht hatte Paluma mich gebeten, bei ihr zu bleiben, stattdessen begab ich mich auf die Suche nach Balám. Die Schuld an dem Unglück trage ich. Auch wenn sie durch die Hand eines anderen starb, bin ich allein verantwortlich dafür und muss dafür büßen.«
»Chac«, sagte Tonina unter Tränen, »ich kann nicht wieder nach Osten gehen. Dort war ich bereits, und nirgendwo in Uxmal oder Mayapán habe ich die auffällige Stickerei wie die auf meiner Babydecke gesehen. Man hat mir geraten, im Westen danach zu suchen, jenseits von Palenque und vielleicht noch weiter weg. Chac, ich fühle mich meinem Volk verpflichtet.«
Die Wolken zerrissen, Mondlicht breitete sich über der Lichtung aus. Chacs und Toninas Blicke trafen sich, vergruben sich tief ineinander. Dann glitt Chacs Hand von Toninas Schultern. »Morgen früh breche ich nach Mayapán auf«, sagte er. »Ich werde jedes Mitglied der Vereinigung aufspüren und für das, was sie getan haben, zur Rechenschaft ziehen. Selbst wenn ich dafür den Rest meines Lebens brauche.«
46
»Schärft eure Speere«, hatte Balám seinen Männern bei Sonnenuntergang befohlen. »Bald kommt es zum Kampf.«
Inzwischen war es nicht mehr weit bis zum Anbruch des neuen Tages. Noch lagen alle im Schlaf, nur der verstörte Prinz von Uxmal nicht. Am Abend zuvor hatte Chac ihn aufgesucht, mit der überraschenden Mitteilung, dass Palumas Seele doch nicht verloren wäre und deshalb Chacs Pilgerreise zu Ende sei. »Morgen früh breche ich nach Mayapán auf«, hatte er gesagt. Da Balám wusste, dass der Freund auf Rache aus war, hatte er ihm beigestimmt, dass die Mitglieder der Vereinigung für den Tod von Paluma bestraft werden müssten. So lange lebte er bereits mit der Lüge, dass er sich kaum noch erinnerte, selbst diese Tat begangen zu haben; gelegentlich bildete er sich sogar ein, dass es tatsächlich die Vereinigung war, die Chacs Frau ermordet hatte.
»Dann trennen sich hier unsere Wege, Bruder.« Wie leicht ihm auch diese Unwahrheit über die Lippen gekommen war! »Denn ich mache mich auf nach Teotihuacán, um Vergebung zu erflehen und die Götter zu bitten, mich wieder mit meiner geliebten Tochter zu vereinen.« Sein Vorhaben, das in Federn eingeschlagene Buch an sich zu bringen, hatte er aufgegeben. Die alte Frau war ständig von Leuten umgeben.
Chac hatte nicht durchblicken lassen, was das Inselmädchen vorhatte oder was aus den Hunderten werden würde, die ihnen gefolgt waren. Überhaupt war er nicht sonderlich gesprächig gewesen, und das stimmte Balám nachdenklich. Nicht, dass es ihn sonderlich interessiert hätte. Für ihn war einzig und allein wichtig, wo Chac morgen Mittag sein würde. Denn dann sollte sein neuester Plan zum Tragen kommen.
Als der in Ungnade gefallene Prinz von Uxmal jetzt durch das Lager ging, leise seine Männer weckte und sie hieß, sich zum Aufbruch bereitzumachen, musste er wieder an die blendende Vision auf dem Marktplatz von Tikal denken. Was hatte ihm die Stimme seiner Mutter zugeflüstert? »Sohn, was du getan hast, kannst du wiedergutmachen. Wenn du einen Feind besiegst und an der Spitze von Gefangenen und Sklaven in Uxmal einmarschierst, wirst du in den Augen der Götter und der Menschen rehabilitiert sein, und dann steht es dir zu, deine Tochter zurückzufordern.«
Die machtvollen Worte seiner Mutter, an die er sich an jenem verhängnisvollen Nachmittag auf dem Marktplatz erinnerte, hatten ihn verändert. Ganz ruhig war er geworden, ein weißes Licht hatte ihn umfangen. Mit geschlossenen Augen hatte er sich dem Licht überlassen und eine verblüffende Vision gehabt: Er sah sich als Anführer einer Armee durch die Straßen von Uxmal ziehen, hinter ihm, als Geschenk für den König, Gefangene in Ketten. Damals hatte er seine Bestimmung erkannt, der kriegerische große Gott Buluc Chabtan hatte sie ihm zu verstehen gegeben. Seit jenem Tag, auf dem langen Marsch von Tikal nach Copán und von Copán nach Palenque, hatte Balám unauffällig kräftige Männer um sich geschart und Reichtum angehäuft. Und wer seine Gefangenen sein würden, wusste er auch.
Chac, der Held des Ballspiels, und die Hunderte, die ihm so blindlings gefolgt waren.
Seit es zwischen den Königreichen der Maya kaum noch zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, fehlte es an geeigneten Opfern für die Götter. Und da Baláms Onkel die Gefangenen höher schätzen würde als Jade und Gold, würde er seinen Neffen wieder in Ehren aufnehmen und ihm das Recht
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