Das Perlenmaedchen
wünschten sich gegenseitig Glück.
Als Tonina Einauge bat, bei Ixchel und H’meen zu bleiben, zumindest eine Weile, sagte er zu. Er war das ständige Herumziehen leid, und es war abzusehen, dass Einauge auch hier weibliche Aufmerksamkeit wecken würde, verhieß doch ein einäugiger Zwerg, der den Angriff eines Jaguars überlebt hatte, fürwahr doppeltes Glück.
So kam es, dass der Zwerg, auf einer niedrigen Steinmauer stehend, Tonina unter Tränen Lebewohl sagte, das Gefühl ihrer Arme um sich genoss und sich schwor, sie ewig zu lieben.
»Ihr wisst, was zu tun ist«, sagte Balám zu seinen Vettern. Sie warteten am Ende des Pfads, dort, wo er auf die von Ost nach West verlaufende Weiße Straße traf, und nahmen wie besprochen ihre Plätze in Bäumen und Büschen und hinter Felsbrocken ein – die Falle für Chac und seine Gefolgsleute war bereit. »Um die Mittagszeit dürften sie hier sein. Mir ist daran gelegen, dass es so wenig Tote wie möglich gibt.« Balám blinzelte in die Sonne, die jetzt den Dunstschleier durchbrach. »Wir müssen Gefangene machen. Vor allem Chac und Tonina sind unbedingt am Leben zu lassen. Als besonderes Geschenk für meinen Onkel.«
Seine Vettern, junge Männer, die darauf brannten, endlich zu kämpfen, fügten sich bereitwillig den Anweisungen. Bald würden ihre Speere Feindesblut trinken, und in ein paar Tagen würden sie den triumphalen Einmarsch eines Helden in Uxmal feiern.
Zwei Gruppen verließen Palenque – eine große und eine erbärmlich kleine.
Keiner hatte sich bereit erklärt, Tonina zu begleiten. Warum sollten sie?, hatten sie gesagt. Sie wollte geradewegs nach Westen, hinauf in die schneebedeckte Bergregion von Chiapás. Dort hatten sie nichts verloren. Viele wollten mit Chac ziehen, sei es, weil sie Heimweh nach Mayapán hatten oder weil sie eine große Stadt kennenlernen wollten oder darauf hofften, dort ihr Glück zu machen.
Dennoch musste Tonina nicht allein aufbrechen. Chac hatte Männer aus der Gegend aufgetrieben, die bereit waren, sie ins Chiapás-Gebirge zu bringen, zuverlässige Führer, die sich auskannten und den örtlichen Dialekt beherrschten. Da Chac dies als Begleitung für Tonina noch immer zu wenig schien, befahl er Haarlos und seinen Freunden, bei Tonina zu bleiben, bis sie ihres Schutzes nicht länger bedurfte, ganz gleich, wie lange dies dauern mochte. Von den Neun Brüdern, die inzwischen nur noch fünf zählten, waren drei verheiratet, und alle drei Ehefrauen weigerten sich, nach Westen, in feindliches Gebiet zu gehen; sie schlossen sich Chacs Gruppe an und ließen ihre Ehemänner mit Haarlos ziehen.
Endlich brach man auf. Stumm schritten Chac und Tonina an der Spitze der noch nicht aufgeteilten Menge durch das Waldgebiet entlang der Küste. Tonina hütete sich, dem Mann an ihrer Seite einen Blick zuzuwerfen. Sie wusste, dass ihre Willenskraft an einem zarten Faden hing. Bitte mich, mit dir zu gehen, und ich sage ja. Chac musste daran denken, wie Tonina ihn unweit von Tikal ins Wasser gelockt hatte. Wenn du jetzt die Hände ausstreckst, ging es ihm durch den Kopf, werde ich das Gleiche tun wie damals: meine Hände in deine legen und mich von dir führen lassen, wohin du willst.
»Sie kommen, Herr!«, vermeldete Baláms Späher aufgeregt. Der Prinz von Uxmal, ergebener Gefolgsmann des blutrünstigen Gottes Buluc Chabtan, griff nach seinem Speer und grinste. Die Stunde der süßen Rache brach an.
Es war etwas Merkwürdiges um Ixchel.
H’meen wusste nicht, was es war. Aufgefallen war ihr das, als sie die weißhaarige Frau zum ersten Mal gesehen hatte, oben auf dem Hügel, als sie unter Tränen allen für ihre Befreiung gedankt hatte. Selbst jetzt, da Ixchel von ihrem unterirdischen Garten sprach, wurde H’meen das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte.
Der allmorgendliche Dunst hatte sich aufgelöst, die Sonne strahlte. H’meen dachte wehmütig an ihre Freunde Tonina und Chac, die sich wohl inzwischen der Weißen Straße näherten. Nach deren Aufbruch war H’meen mit in Ixchels Haus gezogen, wo sie gegenwärtig gemeinsam das Mittagessen einnahmen – eine nahrhafte Brühe, angereichert mit besonderen Kräutern zur Kräftigung von Ixchels Blut. Der Quetzal war, anstatt in die Freiheit zu fliegen, geblieben und hockte auf seiner Stange, wo er unbeschwert an einer Frucht herumpickte, derweil Poki, dick und zufrieden wie immer, auf einer modrig riechenden alten Decke ein Schläfchen hielt. Chac hatte von Haarlos und seinen
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