Das Perlenmaedchen
dieser Jahreszeit brach, sobald sich der morgendliche Dunst aufgelöst hatte, die Sonne durch. Um die Mittagszeit jedoch ballten sich Wolken zusammen und der unvermeidliche Regenguss folgte. Jemand musste, so lange noch die Sonne schien, den Spiegel entsprechend ausrichten.
Am Fuße des wackligen Wachturms hatte sich eine kleine Schar Neugieriger eingefunden. Ein paar Ältere, die sich an die Funktion des Spiegels erinnerten, sagten, dass es eines starken Mannes mit scharfen Augen bedürfe, da die Oberfläche aus Obsidian ganz genau ausgerichtet werden müsse, damit der Lichtstrahl die treffe, die auf dem Pfad unterwegs waren.
Ein bulliger Mann erbot sich, den Turm zu erklimmen. Wer wovor gewarnt werden sollte, wusste er zwar nicht, aber es war für ihn eine Abwechslung, und der allgemeinen Aufmerksamkeit durfte er sich auch sicher sein. Als er jedoch die erste Sprosse erklomm, ächzte der Turm bedrohlich.
»Halt«, gebot H’meen. »Er hält dein Gewicht nicht aus. Ich werde hinaufsteigen.«
»Ihr werdet den Spiegel nicht bewegen können, Frau. Er ist sehr schwer.«
H’meen biss sich auf die Unterlippe. Wenn Ixchels Bericht den Tatsachen entsprach, musste Tonina unbedingt zur Umkehr angehalten werden. Was nicht mehr möglich sein würde, sobald der Regen einsetzte. Und danach wäre nicht mehr auszumachen, welchen Pfad ins Bergland von Chiapás sie eingeschlagen hatte. Jetzt oder nie war die Devise.
Als Einauge H’meens sorgenvolles Gesicht sah, traf er in Sekundenschnelle eine Entscheidung. »Ich klettere hinauf«, sagte er mit gespielter Tapferkeit. »Mein Gewicht wird der Turm aushalten, und meine Arme sind kräftig genug, um den Spiegel zu bewegen.«
»Aber es bedarf eines scharfen Blicks«, gab der Bauer zu bedenken. »Zwei scharfer Augen«, fügte er anzüglich hinzu. »Wenn du den Spiegel falsch ausrichtest, werden sie das Signal nicht bemerken.«
Einauge sah hinüber zu den drei jungen Frauen, die ihn vorhin angehimmelt hatten, und dachte an das angenehme Leben, das er sich in diesem Paradies erträumt hatte, in dem ein einäugiger Zwerg sich wie ein König fühlen konnte. Sein persönliches Glück gegen das Wohlergehen anderer abzuwägen, war etwas ganz Neues für ihn. Außerdem müsste er, um auf den Turm zu steigen und Tonina zur Umkehr zu bewegen, ein Geheimnis preisgeben, und sobald dieses Geheimnis bekannt wurde, wäre es mit dem schönen Leben in Palenque aus und vorbei. Verachten würde man ihn.
Sei’s drum, befand er. Man ist nur einmal jung und niemals zweimal alt. Und mehr als ein Leben hat man nicht. Er löste das Band an seinem Kopf, nahm die Augenklappe ab und sagte: »An meinen Augen gibt es nichts auszusetzen.«
Alle schnappten nach Luft, als sie sein zweites gesundes Auge mit der braunen Iris sahen.
Auf den Trick mit der Augenklappe war er vor langer Zeit verfallen, in einer Stadt, in der es derart viele Zwerge gab, dass sie eine eigene Zunft bildeten. Und weil sie so zahlreich waren, hatte man ihnen kaum noch Beachtung geschenkt. Deshalb hatte sich der gerissene Inselhändler gesagt, dass ein Zwerg, der ein Auge eingebüßt und überlebt hatte, fürwahr als Glückspilz gelten müsste! H’meen, die durchaus verstand, wie schwer ihm diese Offenbarung gefallen war, berührte seinen Arm. »Die Götter mögen dich segnen«, sagte sie.
Als er mit dem Aufstieg begann, betete Einauge, dass es nicht zu spät sein möge, denn dann wäre sein Opfer umsonst gewesen.
Sie näherten sich der Weißen Straße, von der aus es in östlicher Richtung zurück nach Mayapán ging. Tonina dagegen wollte sich nach Westen wenden und einen Pfad einschlagen, der sie in die Kiefernwälder von Chiapás führte.
Als Chac und Tonina schweren Herzens Abschied voneinander nahmen, hob Balám in seinem Versteck den Arm und gab das Zeichen, sich zum Angriff bereitzuhalten.
Einauge verwünschte seine Kleinwüchsigkeit.
Er war oben auf dem Turm angelangt. Sobald er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte – noch nie war er so hoch über dem Boden gewesen, noch nie hatte er so viel Wald gesehen –, tastete er sich vor zum Rande der massiven Platte aus Obsidian, die als Blinkspiegel diente. In dieser Höhe ging ein scharfer Wind, boten die Bäume keinen Schutz. Der Turm schwankte, fast hätte Einauge den Halt verloren.
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte die Arme, nicht ohne die Maya wegen ihrer Marotte für Spiegel und überhaupt zu verwünschen, genau wie seine großherzige Seele, sich aus
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