Das Perlenmaedchen
Männern Ixchels Habe aus der Höhle bergen lassen, selbst die Tomaten- und Beerensträucher, die sie dort gezogen hatte.
»Ehrwürdige«, sagte H’meen und reichte Ixchel eine Kalebasse mit heißer Suppe, in der klein geschnittenes Gemüse schwamm, »wie war es möglich, in der Höhle Eurer Gefangenschaft einen so herrlichen Garten anzulegen?«
Ixchel führte die Schale an die Lippen und trank genüsslich. »Durch die Öffnung an der Decke der Höhle drangen ausreichend Sonnenstrahlen, um Pflanzen zu ziehen, die wenig oder gar kein Licht brauchen. Und natürlich hatte ich genug Wasser. Die kleinen Fische in der Lagune dienten mir als Dünger.«
H’meen sah zu, wie Ixchel jetzt ein kleines Stück Zwiebel zerkaute und mit geschlossenen Augen einen Geschmack genoss, auf den sie jahrelang hatte verzichten müssen. »Ehrenwerte Ixchel«, hob sie an, »verzeiht mir die Frage, aber warum hat Euch der König in die Höhle eingeschlossen?«
Ixchel sah das seltsame Mädchen an, das so vorzeitig gealtert war. »Pac Kinnich hatte es auf etwas abgesehen, was meiner Familie gehörte.« Ihre Augen streiften das in Federn eingehüllte Bündel neben sich. »Er drohte, uns alle umzubringen, auch meinen geliebten Ehemann Cheveyo, wenn ich ihm nicht das heilige Buch gab, das sich seit Generationen in meinem Haus befand.«
Schatten legte sich über das kleine Steinhaus, verdeckte kurz die Sonne. Ein Gewitter kündigte sich an. Im angrenzenden Hof vergnügte sich Einauge damit, drei junge Frauen mit Berichten über seine Reisen zu unterhalten, nicht ohne hervorzuheben, welche Könige und hochrangige Persönlichkeiten er kennengelernt hatte, und gleichzeitig darauf zu achten, dass sein Umhang weit genug auseinanderklaffte, um die »Jaguarpranken« auf seiner Brust erkennen zu lassen.
»Es war das Jahr der Fünf Hurrikane«, sagte Ixchel und vergaß über der schmerzvollen Erinnerung ihre Suppe. »Pac Kinnich war ein bösartiger Mensch. Als meine Familie sich vor ihm versteckte, hob er im westlichen Bergland Fallen aus, wie Jäger sie zum Fangen von Tapiren und Rotwild verwenden, mit Pfählen, die oben zugespitzt waren. Er hoffte, wir würden in diese Fallen stürzen … «
Während sie Ixchels Bericht lauschte, gab H’meen Kräuter und Gewürze in den Topf und erfuhr jetzt, dass die Familie, nachdem man sie vor den Fallen gewarnt hatte, in verschiedene Richtungen geflohen und Ixchel von ihrem geliebten Cheveyo getrennt worden war.
Plötzlich erstarrte H’meens Hand über der Suppe. Sie blinzelte die alte Frau an und stieß gleich darauf einen Schrei aus, wodurch Poki hochschreckte und in das ihm eigene Kläffen ausbrach.
»Was ist denn?«, fragte Ixchel.
»Wir müssen sie aufhalten!« H’meen sprang auf. »Einauge!«
Der Zwerg eilte herbei. »Was ist los?«
»Wir müssen Tonina benachrichtigen! Sie muss umkehren!« »Umkehren! Das ist unmöglich! Sie dürften die Weiße Straße bereits erreicht haben.«
»Läufer!« H’meen schob Einauge in Richtung Tür. »Such Männer und schick sie hinter ihnen her.«
Ixchel setzte ihre Suppenschüssel ab, schlug die Hände vor den Mund. »Ihr meint, die Fallen dort gibt es noch immer?«
»Läufer werden Tonina unmöglich rechtzeitig erreichen«, sagte Einauge. Fallen? Was für Fallen denn? »Der Himmel bezieht sich. Bald wird es regnen, und dann gleicht der Pfad einem Fluss. Bis wir jemanden finden, der Tonina nacheilt, wird sie viel zu weit weg sein … «
»Einauge!«, beschwor H’meen den Zwerg. »Wir müssen etwas unternehmen, damit sie umkehren. Rasch!«
»Ich wüsste nicht, wie … «
»Der Turm«, kam es unversehens von Ixchel.
Sie starrten sie an.
»Wenn er noch steht«, sagte die alte Frau und erhob sich, »kannst du hinaufklettern und denen, die auf dem Pfad unterwegs sind, ein Signal geben.«
»Wo ist denn dieser Turm?«, fragte Einauge.
»Ich zeige ihn dir.«
Der Holzturm erhob sich am Rande der Stadt und überragte selbst den höchsten Baum des Regenwaldes. »Ganz oben ist ein Spiegel aus Obsidian angebracht«, sagte Ixchel und deutete dorthin, wo der Turm zwischen den Bäumen verschwand. »Er wurde vor vielen Jahren errichtet, für Späher, die dann Ausschau nach Angreifern hielten. Wenn der Spiegel so ausgerichtet ist, dass die Sonne darauffällt, schickt er ein grelles Warnlicht hinunter in die Ebene, damit die, die sich dort aufhalten, umgehend Schutz in der Stadt suchen.«
Sie schwieg. Alle schauten zum immer dunkler werdenden Himmel empor. Wie immer in
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